Der Novembermörder
neben dem Vorhang und schaute in der Dunkelheit auf den Balkon und das Meer hinaus.
Nur ihr Gesicht ragte über den Balkonboden hinaus. Sie hatte das Fernglas zwischen die Trallen geschoben. Er konnte sie nicht gesehen haben. Trotzdem spürte sie, wie die Panik von Billdal aus dem schwarzen Loch in ihrem Inneren hervorquoll. Das schwarze Loch, von dem sie geglaubt hatte, es für alle Zeiten gestopft zu haben.
Zitternd von dem Schock und vor Erschöpfung kletterte sie wieder hinunter und sank auf den kalten Felsen zusammen. Sie durfte ihrer Angst nicht nachgeben. Nicht in Panik geraten! Sie holte ein paar Mal tief Luft, schloss die Augen und versuchte nach innen zu schauen und sich zu konzentrieren, als etwas herausfordernd an ihrem Bewusstsein zu zerren begann. Zuerst versuchte sie es auszusperren, aber plötzlich war sie wieder in dem kalten Wind an Ort und Stelle. Sie öffnete die Augen und schaute in die Dunkelheit. Der eiskalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Ein verzweifelter Schrei war leise aus dem Hausinneren zu hören gewesen.
Schnell sprang sie wieder auf das Ruderboot. Mit einem Fuß stellte sie sich auf den Bug und schaute mit dem Fernglas durch die Trallen. Hoffa hatte jetzt den Rücken zum Balkon gedreht. Er lauschte ins Haus hinein. Aber sein folgendes Manöver war reichlich merkwürdig. Zu Irenes Überraschung glitt er hinter den Vorhang, immer noch mit dem Rücken zum Balkon. Unbeweglich blieb er dort stehen. Irene nahm Bewegungen im Haus wahr. Ohne viel darüber nachzudenken, zog sie sich hoch und schwang schnell über das Balkongeländer. Mucksmäuschenstill hockte sie sich hin. Nach ein paar Sekunden nahm sie vorsichtig das Sichtgerät hoch und schaute zu dem Punkt, an dem Hoffa stand. Er hatte sich nicht bewegt. Vorsichtig stand sie auf und blickte direkt ins Haus hinein. Das Licht kam von der Deckenlampe im Flur, die deutlich die Szene beleuchtete. Im Profil konnte sie Fredrik mitten im Flur stehen sehen, die Pistole mit gestreckten Armen in beiden Händen haltend. Er zielte auf jemanden, der sich vor ihm befand, für Irene außer Sichtweite.
Unendlich vorsichtig begann sie zu Hoffa hinzugehen. Nicht, weil sie genau wusste, was sie machen sollte, sondern eher von einem Instinkt getrieben, der ihr sagte, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen durfte. Als ihr Fuß gegen etwas Hartes stieß, war sie vollkommen unvorbereitet und hätte fast aufgeschrien. Es tat ernsthaft weh, aber es war nur ein Schlag gegen massiven Zement gewesen. Sie war gegen einen schweren Fuß für einen Sonnenschirm getreten. Ein paar endlose Sekunden lang stand sie unbeweglich da und wartete ab. Jetzt war sie so nah, dass sie den Mann hinter dem Vorhang sehen konnte. Höchstens zwei Meter trennten die beiden noch. Hoffa war ganz und gar auf das konzentriert, was sich im Haus abspielte. Sie nahm eine weitere Bewegung im Flur wahr. Birgitta kam durch die Tür, auch sie mit gezogener Waffe. Während Fredrik in seiner Position verharrte, begann Birgitta auf das Zimmer mit dem Balkon zuzugehen. Sie blieb in der Türöffnung stehen, suchte am Türrahmen und fand den Lichtschalter. Das Zimmer wurde von einem schönen Kronleuchter über dem Esstisch erleuchtet. Hoffa bildete plötzlich ein scharfes Relief vor dem weißen Vorhang. Aber der Stoff war kräftig, was sicher notwendig war, um die starke Sonne im Sommer abzuhalten. Birgitta schaute sich um, ohne den Mann hinter dem Vorhang zu entdecken. Nur Irene sah ihn. Sie sah, wie er ganz langsam ein Messer aus einem Futteral herauszog, das um die Wade geschnallt war. Ein Lichtschein tanzte auf der langen, breiten Schneide. Ein Jagdmesser für Großwild.
Woher sie die Kräfte nahm, konnte sie hinterher nicht sagen. Ohne Zeit für Überlegungen zu vergeuden, beugte sie sich vor und umfasste den Sonnenschirmfuß. Sie zog ihn sich vor die Brust, mühte sich damit ein paar Schritte nach vorn und warf ihn dann mit aller Kraft durch die Glaswand auf Hoffa. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Scheibe. Ob es an der starken Spannung im Glas oder an der Wucht ihres Wurfs lag, war nicht zu sagen. Birgitta schrie im Falsett auf, beruhigte sich aber sofort wieder, als Irene durch das Loch schrie: »Nicht schießen! Ich bin es!«
Birgitta lief schnell zur Tür, fand den Schlüssel, der an der Innenseite hing, und schloss sie mit zitternden Händen auf. Hoffa lag in einer großen Blutlache. Die beunruhigend schnell immer größer wurde. Eine große Glasscherbe stach aus
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