Der Novembermörder
verlor. Das dauerte nie lange. Wenn sie ihn unter Druck gesetzt haben und Ansprüche stellen wollten, suchte er wieder Schutz bei mir. Es hätte gar keinen Sinn, das zu leugnen, denn er hat sich nie die Mühe gemacht, es zu verbergen. Ich musste halt damit leben!«
Schließlich kam also, was kommen musste: Verbitterung. Irene fragte versöhnlich: »Und Sie selbst? Ich habe keine entsprechenden Fotos von Ihnen gesehen.«
Sylvia lachte schrill und höhnisch, bevor sie antwortete: »Wir gaben uns gegenseitig große Freiheiten. Seine Freiheit, heißt das.«
Demonstrativ schloss sie wieder die Augen und presste die Lippen fest aufeinander. Mit einem Seufzer musste Irene einsehen, dass es an der Zeit war, Thema und Taktik zu ändern. Sie setzte sich auf die Bettkante. Zögernd sagte sie: »Sylvia, ich versuche den Mord an Ihrem Mann aufzuklären. Wir haben keine Ahnung, was das Motiv und den Mörder betrifft. Sie müssen uns helfen. Wir müssen diese unangenehmen Fragen stellen, weil wir versuchen, die Wahrheit herauszufinden.«
Die blau schimmernden Augenlider zuckten. Aber als Sylvia die Augen aufschlug, waren diese vollkommen ausdruckslos. Sie sah Irene mit leerem Blick an.
»Wem ist denn mit der Wahrheit gedient?«
Irene blieb ihr die Antwort schuldig. Das war, freundlich ausgedrückt, ein äußerst sonderbares Gespräch. Aber sie hatte noch eine Frage, die sie unbedingt stellen musste. Sie holte tief Luft, auf alles gefasst.
»Wir haben Richards persönliche Daten bekommen, das heißt die amtlichen. Früher haben sich die Kirchenämter darum gekümmert. Aber jetzt haben die Finanzämter diese Informationen, und deshalb sind es öffentliche Daten.«
Irene hielt inne, weil sie sich nicht ganz sicher war, ob es auch wirklich stimmte. Aber Sylvia verzog keine Miene. Damit Sylvia gar nicht erst anfing nachzuhaken, sprach Irene schnell weiter: »Wussten Sie, dass Richard die Vaterschaft für einen Sohn anerkannt hat, bevor Sie heirateten?«
Schnell schlug Sylvia die Augen auf. Ihre Nasenflügel weiteten sich, und sie atmete hörbar aus, als sie tonlos antwortete: »Diese Nachricht trifft mich nicht völlig unvorbereitet. Denn zu Anfang unserer Ehe gab es einige sonderbare Telefonate. Eine Frau rief an und stritt sich mit Richard. Ich konnte einiges mithören. Ich konnte erkennen, dass es sich um … um ein Kind handelte.«
Es lag die Trauer von Jahrzehnten in dem letzten Satz. Irene spürte einen Stich von Mitleid, aber sie beschloss, noch etwas weiter zu bohren.
»Aber Ihnen hat er nie etwas von dem Kind gesagt?«
»Nein.«
»Weiß Henrik davon?«
»Kein Wort zu Henrik!«
»Er wird es leider so oder so erfahren. Spätestens dann, wenn das Testament eröffnet wird.«
Dann ging alles blitzschnell. Plötzlich hatte Sylvia ihre schlanken Beine über die Bettkante geworfen. Rote Flecken der Wut brannten auf ihren Wangen, ihre Augen funkelten vor Empörung, und der Schleier der Elfe war durch den der Megäre ersetzt worden.
»Was, soll dieser widerliche Bastard auch noch was erben! Niemals! Nur über meine Leiche! Das lasse ich nicht zu! Ich werde sofort Tore anrufen … o ja.«
Sie verstummte. Irene wusste, dass sie Tore Eiderstam meinte. Und wenn man nicht gerade ein Spiritist war, war es unmöglich, mit dem Rechtsanwalt Kontakt aufzunehmen. Aber jemand musste schließlich seine Firma übernommen haben, davon konnte man wohl ausgehen. Das sagte sie Sylvia, die ganz verwirrt aussah.
»Es sind mehrere Anwälte in Tores Kanzlei. Ob ich dort anrufen kann? Oh, verdammt! Richard hat sich immer um alles Finanzielle und Juristische gekümmert«, sagte sie resigniert.
Sie wurde von einem Klingeln an der Tür unterbrochen. Irene ging hinunter und öffnete die Wohnungstür. Henrik sah erschöpft und verkniffen aus. Er nickte ihr kurz zu und lief die Treppe zum oberen Stock hinauf. Irene folgte ihm nachdenklich. Sylvias Reaktionen waren schon sonderbar. Was eigentlich eitel Freude und frohe Worte über das kommende Großmutterglück hervorrufen sollte, verursachte bei ihr die reinste Explosion. Das peinliche Thema der anderen Frauen ihres Mannes hatte sie bereitwillig abgehandelt, wenn auch mit bitteren Worten. Der andere Sohn war ihr nicht vollkommen unbekannt, aber er löste erst eine Reaktion aus, als ihr klar wurde, dass er erbberechtigt war. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, von Knechts Juristen aufzusuchen? Obwohl die sicher nichts sagen würden, bevor nicht das Testament der Familie eröffnet war.
Im
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