Der Novembermörder
war es still. Irene überlegte schon, ob Henrik auch umgefallen war. Aber dann fauchte er nur: »Verdammt!«
Klick! Der Hörer wurde aufgeschmissen. Irene war irritiert. Als ob sie etwas Schlechtes getan hätte! Oder hatte sie das? Mit leicht schlechtem Gewissen dachte sie daran, wie sie die hysterische Sylvia festgehalten hatte. Hätte sie es auf eine andere Art machen können? Wohl kaum.
Als sie sich wieder dem Bett zuwandte, sah sie, dass Sylvia in der linken Hand eine Tablettenhülse hatte und dabei war, die gekrümmte rechte Hand zum Mund zu führen. Die oberste Schublade des Nachtschranks war herausgezogen. Reflexartig beugte Irene sich vor und packte die rechte Hand. Drei kleine weiße Tabletten mit einem Strich in der Mitte lagen auf der hohlen Handfläche. Das war wohl kaum genug für einen Selbstmordversuch. Um Sylvias Vertrauen wiederzugewinnen, fragte sie allzu hilfsbereit: »Brauchen Sie Wasser, um die Tabletten runterzuschlucken?«
Sylvia nickte, ohne sie anzusehen. Irene löste Sylvias Griff um die Tablettenhülse. Schnell las sie das Etikett: »Tabletten, Stesolid, 5 mg«. Als sie das Röhrchen zurück in die Schublade legen wollte, sah sie, das dort noch mehr davon lagen. Die Jungs von der Spurensicherung hatten das sicher notiert, also beschloss sie, keine weiteren Fragen zu stellen und sich die anderen Tabletten nicht näher anzusehen. Resolut schob sie die Schublade zu.
Sie ging hinaus in das luxuriöse Bad und ließ Wasser in ein Zahnputzglas laufen, das in einem vergoldeten Ring an der Wand hing. Das Glas selbst war aus geschliffenem Kristall und die Wasserhähne vergoldet. Auf dem Boden lag ein benutztes Frotteebadelaken. Gedankenlos hängte Irene es über das warme Trockenstativ an der Wand. Pirjo würde einiges zu tun haben, wenn sie kam.
Sylvia lag da und starrte an die Decke, als Irene mit dem Wasserglas ans Bett trat. Sie zog sich auf einen Ellbogen hoch, um das Wasser und die Tabletten schlucken zu können. Danach sank sie wieder erschöpft auf die Kissen zurück. Mit geschlossenen Augen flüsterte sie kaum hörbar: »Ich wollte Sie nicht schlagen. Ich war einfach nur nicht darauf gefasst. Das ist alles zu viel für mich.«
Irene wollte Sylvia nicht so davonkommen lassen. Man konnte schnell Mitleid mit dem kleinen, zerbrechlichen Menschen bekommen, aber Irene hatte das Gefühl, als würde sich noch eine ganze Menge unter dieser Hülle verbergen, das ausgegraben werden musste. Und warum dann nicht die Wahrheit? Sie beschloss, auf diesen unbekannten Gewässern vorsichtiger zu navigieren. Mit einer vor Mitgefühl überschwappenden Stimme sagte sie: »Sie müssen mir verzeihen. Ich dachte, Sie wüssten, dass Charlotte schwanger ist. Das haben die beiden mir gestern im Präsidium gesagt. Wahrscheinlich haben Sie es Ihnen noch nicht erzählt, weil sie wissen, dass Sie im Augenblick keine größeren Gefühlseindrücke ertragen können.«
Sylvia murmelte zustimmend. Sie hatte immer noch die Augen geschlossen. Das war eine effektive Methode, Irene und ihre unangenehmen Fragen auszuschließen. Irene war verunsichert – wie sollte sie weiterkommen? Aber plötzlich fiel ihr etwas ein.
»Die Telefonliste. Sie haben doch die Adressen und Telefonnummern Ihrer Gäste vom Samstag. Könnte ich die haben?«
Widerstrebend öffnete Sylvia ihre Augenlider. Der Blick war wütend und kalt. Und ebenso feindselig der Ton: »Ich kann jetzt nicht. Schließlich haben Sie mich dazu gebracht, in Ohnmacht zu fallen. Mir dreht sich alles im Kopf, und mir ist, als hätte ich Watte in den Ohren. O mein Gott, ist mir übel!«
Demonstrativ legte sie ihre dünnen Finger auf die Schläfen und begann zu massieren.
Zu ihrer eigenen Verwunderung spürte Irene eine kräftige Wutwelle aus dem Zwerchfell aufsteigen, den Hals hinauf, um dann im Kopf zu explodieren. Sie versuchte sich selbst zurückzuhalten, aber vergebens. Kalt und neutral sagte sie: »Jetzt, wo Sie sowieso schon liegen, kann ich eigentlich gleich meine nächste Frage stellen. Ich habe einige alte Zeitungsartikel durchgesehen. Und auf den Fotos ist Richard auffallend oft mit jungen, hübschen Frauen zu sehen. Was haben Sie dazu gesagt?«
Sylvia massierte ihre Schläfen nicht mehr. Ihre Augen loderten vor Wut, aber ihre Stimme verriet nichts, als sie antwortete: »Diese dummen Gänse waren sein Zeitvertreib. Er hatte starke … Triebe. Aber ich war immer seine Hauptfrau. Er kam immer zu mir zurück, wenn er das Interesse an seiner jüngsten Eroberung
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