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Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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er hätte Schäden direkt am Gehirn davongetragen. Es dauerte fast drei Jahre, bis Schwindel und Kopfschmerzen verschwanden. Und während dieser Zeit entfernten Richard und Henrik sich immer weiter voneinander. Früher hatten sie so viel zusammen gemacht. Vor allem war Richard sauer, weil Henrik plötzlich keinerlei Interesse mehr an Aktien und Geschäften hatte. Er wurde rasend, als er hörte, dass Henrik sich an der Universität für Kunstwissenschaft eingeschrieben hatte, mit Schwerpunkt Kunst- und Stilgeschichte. Aber nach einer Weile änderte er seine Meinung. Er war es dann, der Henrik vorschlug, für Privatkunden Antiquitäten einzukaufen. Und Richard wurde mit der Zeit einer seiner besten Kunden. Das brachte sie wieder etwas näher zusammen.«
    »Aber es wurde nie wieder wie vor der Hirnhautentzündung?«
    »Nein.«
    Wieder hatte Sylvia ihren platinblonden Vorhang vors Gesicht fallen lassen, indem sie den Kopf vorbeugte. Irene wusste nicht so recht, was sie machen sollte. Wie konnte sie weiterkommen? Sylvia konnte nach außen hin willensstark und egoistisch wirken, doch intuitiv spürte Irene ihre psychische Anfälligkeit. Die Fragen, die sie stellen wollte, waren unerhört persönlich und intim. Aber sie mussten gestellt werden. Am besten jetzt. Doch dabei war ein vorsichtiger Einstieg sicher nicht schlecht, deshalb begann sie: »Aber als Henrik vor drei Jahren Charlotte heiratete, da ging es ihm wohl ziemlich gut?«
    Nicht einmal ein Zittern in dem gebleichten Vorhang. Überhaupt keine Reaktion. Und die schlimmsten Fragen waren noch gar nicht gestellt worden. Am besten, sich ganz neutral geben. Oder sollte sie es mit etwas Positivem einleiten?
    »Ihm scheint es doch jetzt gut zu gehen. Mit ihr. Und in Ihrer großen Trauer haben Sie jedenfalls das Glück, Großmutter zu werden …«
    Sylvia sprang sie wie eine Wildkatze an. Biss, trat und kratzte mit aller Kraft. Die ganze Zeit schrie sie: »Das stimmt nicht! Alles gelogen! Nur gelogen!«
    Zuerst war Irene so überrascht, dass sie sich gar nicht wehrte und eine tiefe Kratzwunde am Hals abbekam. Aber dann lief alles instinktiv ab. Sanft wehrte sie Sylvias rudernde Arme von innen nach außen ab. Gedan-uchi-uke sitzt einer alten Europameisterin im Blut. Sie packte das schmale Handgelenk und zog Sylvia leicht aus dem Gleichgewicht, drehte ihr den rechten Arm auf den Rücken und drückte ihn leicht, umfasste mit der rechten Hand Sylvias linken Oberarm und drückte dann ihren linken Arm unter Sylvias Kinn. Effektiv ruhig gestellt. Irene presste sie an sich. Ob es nun der Körperkontakt war oder die Umklammerung, das wusste sie nicht, jedenfalls ging Sylvia die Luft aus. Sie fiel in Ohnmacht. Irene beruhigte sich selbst, indem sie laut sprach: »Das ist doch nicht möglich! Ich möchte nur wissen, was wohl passiert wäre, wenn ich eine meiner wirklich persönlichen Fragen gestellt hätte?«
    Sie hob Sylvias leichten Körper hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Die kleine, dünne Gestalt schien fast in den Daunendecken des breiten Doppelbetts zu verschwinden. Natürlich hatte Sylvia nicht die Betten gemacht. Das hätte sicher Pirjo machen sollen, wenn sie gekommen wäre.
    Irene hob Sylvias Beine senkrecht hoch und massierte die Waden. Nach ein paar Minuten kam Sylvia wieder zu sich. Sie murmelte etwas Unverständliches und versuchte sich aufzusetzen. Irene drückte sie wieder zurück und sprach beruhigend wie zu einem Kind mit ihr. Sylvia jammerte leise. »Henrik, Henrik soll kommen.«
    Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee? Wenn Henrik kam, würde Sylvia ruhiger werden. Irene und er konnten ebenso gut ihr verabredetes Gespräch hier im Haus führen.
    »Ich werde Henrik anrufen. Wo ist seine Nummer?«
    »Drücken Sie auf die Zwei und das Viereck.«
    Kurzwahlziffern sind doch praktisch. Irene ging zu dem Tastentelefon, das auf einer kleinen geschwungenen Kommode neben dem Bett stand.
    Henrik antwortete nach dem zweiten Klingeln. Irene nannte ihren Namen und wusste dann nicht so recht, wie sie es sagen sollte. Bewusst ungenau erklärte sie ihm: »Ich bin hier bei Ihrer Mutter. Sie … ist zusammengebrochen. Sie möchte gern, dass Sie herkommen.«
    »Ja, natürlich komme ich. Meine Mutter ist momentan sehr labil. Wieso ist sie zusammengebrochen?«
    Genau diese Frage hätte Irene gern vermieden.
    »Ich habe versucht, sie mit etwas Positivem aufzumuntern. Ich habe ihr gratuliert, weil sie doch Großmutter wird … ich dachte, sie wüsste das.«
    Eine ganze Weile

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