Der Novembermörder
Schlafzimmer saßen Mutter und Sohn nebeneinander auf der Bettkante. Sylvia warf ihre blonden Haare mit einem trotzigen Ruck nach hinten und meinte: »Henrik hat gerade genau das Gleiche wie Sie gesagt. Dass ich mich schonen soll und im Augenblick keine zu heftigen Gemütserregungen ertrage. Ich laufe wohl ziemlich aus dem Ruder, wenn ich so reagiere wie eben.«
Es dauerte eine Weile, bis Irene verstand, dass das nicht nur eine Erklärung, sondern gleichzeitig auch eine Entschuldigung war. Sie nickte und lächelte aufmunternd, bekam aber keine Antwort, weder von Mutter noch von Sohn. Henrik sah aus, als hätte er mehrere Nächte lang nicht geschlafen. Irene war dieses ganze sonderbare Verhalten in dieser Familie so langsam leid. Immer sollte sie nur auf Zehenspitzen herumtrippeln und Rücksicht nehmen – schließlich ging es um einen Mord und ein tödliches Bombenattentat, das hier aufgeklärt werden sollte! Sie beschloss, bei Henrik direkt zur Sache zu kommen. Sachlich sagte sie: »Henrik, ich habe gerade Ihrer Mutter erzählt … Sylvia, dass wir Informationen darüber haben, dass Ihr Vater einen Sohn aus einer früheren Beziehung hatte.«
Henriks Gesicht blieb weiterhin ausdruckslos. Er zwinkerte ein paar Mal, sagte aber nichts.
»Wussten Sie von der Existenz Ihres Halbbruders?«
Er schüttelte langsam den Kopf, immer noch ohne ein Wort zu sagen. Sylvia sagte gehässig: »Es sieht so aus, als sollte er etwas von dem Erbe abkriegen! Niemals, habe ich gesagt! Niemals!«
Henrik sah sie müde an: »Mama, es gibt Gesetze für so etwas. Überlasse das lieber Papas Juristen.«
Es wurde ganz still. Weder Sylvia noch Henrik hatten irgendwelche Fragen hinsichtlich des neu entdeckten Halbbruders. Wäre es nicht natürlich gewesen zu fragen, wo er wohnte, wie alt er war? Aber vielleicht fragte man so etwas auch nicht in einer solchen Situation? Der Schock war möglicherweise zu groß. Das Schweigen wurde langsam peinlich. Irene räusperte sich und sagte: »Henrik, was halten Sie von dem Feuer gestern Abend?«
»Das muss nichts mit Papas Tod zu tun haben.«
Es war seiner Stimme anzuhören, dass er das selbst nicht glaubte. Irene stellte weiter ihre Fragen.
»Von Ihnen hat keiner je das Gefühl gehabt, Richard könnte bedroht werden?«
Die beiden sahen einander an, dann schauten sie wieder zu Irene und schüttelten gleichzeitig den Kopf. Irene fragte unbeirrt weiter: »Er hat nie davon gesprochen, dass jemand ihn hasste oder Rachegefühle gegen ihn hegte? Vielleicht hinsichtlich irgendwelcher Geschäfte?«
Sylvia schaute uninteressiert zur Seite und schien einen chinesischen Druck über dem Bettpfosten zu betrachten. Auch Irene war die schlüpfrige Seidenmalerei schon aufgefallen. Sie hatte gedacht, dass es sich eigentlich um Sex mit einer Dame ohne Unterleib handeln musste, wenn jemand seinen Unterkörper so verdrehen konnte, wie die Dame auf dem Bild. Spontan zeigte sie auf das Werk und fragte laut: »Warum hat er Sexbilder gesammelt?«
Henrik sah sie kühl an und antwortete herablassend: »Sexbilder? Das ist Schwedens beste Sammlung von Erotica.«
Sylvia sprang vom Bett auf. Sie wedelte mit einem dünnen kleinen Finger vor Henriks Gesicht herum und schrie: »O nein! Sie hat vollkommen Recht! Sexbilder, genau das sind sie. Und die sollen weg! Weg! Ich bin sie so verdammt leid!«
Sie hielt inne und schaute sich im Zimmer um, sah sich all die Bilder nackter oder kopulierender Menschen an. Und wieder liefen ihr still die Tränen über die Wangen. Leise schluchzte sie: »Er war so stolz auf seine Sammlung. Ich hasse sie! Hasse sie!«
Henrik stand auch auf und fasste seine Mutter bei den Schultern.
»Mama, ich werde den Verkauf regeln. Es gibt einen großen Markt in Europa dafür. Vor allem in England. Ich kann mir denken, dass Christies sehr interessiert sein könnte. Diese Sammlung ist mehrere Millionen wert und das weißt du.«
Sie nickte und schluchzte noch einmal laut auf.
»Ich weiß. Aber ich will sie nicht mehr sehen!«
»Ich werde dir helfen, sie abzuhängen. Wir können sie in mein altes Zimmer stellen. Willst du den Zorn auch nicht mehr haben?«
»Alles soll weg.«
Irene fühlte sich etwas hilflos. Es war nicht einfach, alles in den Griff zu bekommen, was da unter der Oberfläche brodelte. Dass es große Spannungen innerhalb der Familie von Knecht gab, daran konnte kein Zweifel sein. Aber war das der Grund für den Mord an Richard? Für die Bombe in seinem Büro? Da die Zwiste schon alt und
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