Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Tarō Shūsaku. Der Mann hatte das Gesicht wieder hinter Seidenschals verborgen, die er offenbar irgendwo in seiner Kleidung versteckt hatte, und der dunkle Stoff tarnte ihn – zumindest in Tarōs Fall – weniger wirkungsvoll als die Tätowierungen auf seiner nackten Haut.
So schlichen sie durch ein gutes Ri Ackerland, und Tarō war sich des orangeroten Schimmers an den Berggipfeln sehr bewusst. Die aufgehende Sonne bedeutete nicht nur unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, sondern bald würden sie sich in ihrer dunklen Kleidung auch deutlich vor dieser flachen, eintönigen Landschaft abheben, in der es keinen Wald und keine versteckten Wildwechsel gab. Jeder, der nach ihnen suchte, würde sie von der Straße aus augenblicklich entdecken.
Wenn die Sonne sie nicht vorher umbrachte.
Daher stießen Tarō und Hirō einen Seufzer der Erleichterung aus, als Shūsaku durch einen Riss im schmuddeligen Papierfenster einer Hütte am Rand des nächsten Dorfes spähte. Sie hatten bereits die Ausläufer des Gebirges erreicht, das von Nagoya aus so fern erschienen war, und der Boden war nicht mehr so nass, weil die Reisfelder allmählich Obstgärten und Bienenstöcken wichen.
»Diese hier«, flüsterte Shūsaku, und Tarō trat neben ihn und schaute in eine völlig verstaubte, kärglich eingerichtete Hütte, nur zwei Tatami-Matten breit. » Wir werden Stoff vors Fenster hängen müssen, um uns gegen die Sonne zu schützen. Aber für heute wird es gehen. Solange das Licht nicht zu hell und unsere Haut bedeckt ist, werden wir es überleben.«
Später, als sie die tastenden Finger der Morgensonne so gut wie möglich ausgesperrt hatten und gemeinsam in einer Ecke des einzigen Raumes saßen, legte Tarō mit der traditionellen Geste der Aufrichtigkeit seine Hand aufs Herz. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich an deiner Ehre gezweifelt habe«, sagte er zu Shūsaku.
Der Ninja schnaubte, doch Tarō konnte sehen, dass seine Augen vor Freude strahlten. »Das ist mir nicht zum ersten Mal widerfahren«, entgegnete er.
»Aber in Minata«, sagte Tarō, der den scherzhaften Tonfall des Ninja ignorierte, »hättest du sie töten können, wenn du gewollt hättest. Das wäre pragmatischer gewesen, wie du es ausgedrückt hast. Aber du hast es nicht getan.«
Shūsaku lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich niemanden töte, wenn ich es vermeiden kann. Nicht einmal Ninja. Vor allem keine Ninja. Unser Gewerbe ist sehr gefährlich, und unsere gefragten Fähigkeiten führen dazu, dass wir manchmal auf verschiedenen Seiten kämpfen. Vor langer Zeit haben die Gründer unserer Klans ein einziges Gesetz erlassen – ein Ninja darf niemals einen anderen Ninja töten oder es auch nur versuchen. Wer dieses Gesetz bricht, wird mit dem Tode bestraft.«
»Aber du hast es gerade gebrochen.«
»Hm, ja. Das war unvermeidlich. Wir müssen die Berge sicher erreichen. Ich habe mich mit meinem Ehrenwort dazu verpflichtet, dein Leben zu schützen, und dieses Wort werde ich nicht brechen.«
»Aber trotzdem sprichst du über die Ehre, als wäre sie ein Witz«, sagte Tarō.
»Nein«, erwiderte der Ninja. »Über die Ehre an sich mache ich mich nicht lustig. Die Ehre der Samurai ist kein Witz. Sie ist tödlich. Deshalb gebe ich nicht allzu viel auf diesen Begriff.« Er klang jetzt sehr ernst.
»Das verstehe ich nicht.«
»Dann sag mir eines«, entgegnete der Ninja. » Was lehrt der Bushidō, der Kodex der Samurai, über die Ehre?«
»Tapferkeit. Treue. Und dass man sich so verhalten sollte, als wäre jeder Augenblick der letzte im Leben.«
»Genau. Der Kern dieser Ehre besteht darin, gehorsam zu sein und zu sterben, wenn es von einem verlangt wird. Dem Kriegsherrn treu zu sein, dem Daimyō, dem Shōgun. Alles andere ist bedeutungslos. Die hohen Fürsten reden von Ehre, aber eigentlich wollen sie nur, dass ihre Samurai sich vollkommen ihrer Autorität unterwerfen und jederzeit bereit sind, in ihrem Namen zu sterben. Die Daimyō selbst kennen keine Ehre, nur Pragmatismus. Wie hat Oda Nobunaga denn Imagawa Yoshimoto in der Schlacht von Okehazama besiegt, obwohl er nur dreitausend Männer hatte und Imagawa vierzigtausend?«
Hirō warf ein: »Er und seine Männer haben Imagawas Armee überholt und ihr eine Falle gestellt.«
»Wie?«
Hirō lächelte. Die Geschichte war altbekannt und sehr beliebt in dem Dorf, in dem Tarō und Hirō gelebt hatten, ja in ganz Kantō. »In der Nacht
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