Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
stellten die Samurai des Daimyō Oda eine falsche Armee aus Strohpuppen auf dem Bergpass auf, um Imagawa glauben zu machen, sie lagerten dort oben. Dann stiegen sie im Schutz der Dunkelheit ins Tal hinunter, verbargen sich im Wald und warteten darauf, dass Imagawas Krieger sich zur Ruhe legten. Bald brach ein Gewitter los, das die Feinde zwang, sich in ihre Zelte zurückzuziehen. Während der Regen fiel und Blitze zuckten, stürmten Daimyō Oda und seine Kämpfer aus dem Wald und töteten Imagawas Männer, während sie schliefen oder heillos durcheinanderliefen. Es war ein glorreicher Sieg.«
»Sie haben eine zahlenmäßig überlegene Armee im Schlaf abgeschlachtet«, sagte Shūsaku. »Das war kein glorreicher Sieg. Damals hat nur eine List über eure so genannte Ehre gesiegt. Sie haben Imagawa mit ihren Strohpuppen getäuscht und dann ihn und seine wehrlosen Männer massakriert. Aber haben Odas Krieger seinen Befehl in Frage gestellt? Natürlich nicht. Ehre bedeutet nicht für alle Menschen das Gleiche. Für die adligen Samurai ist sie der Kodex, der sie in uneingeschränktem Gehorsam an ihren Fürsten bindet. Für die Fürsten ist sie ein nützliches Mittel, ihre Samurai und ihre Bauern auszubeuten. Aber ein Fürst hat keine Vorstellung von Ehre. Er heuert bedenkenlos Ninja an, damit sie ihm die schmutzigere Arbeit abnehmen.« Er schien noch mehr sagen zu wollen, hielt jedoch inne. »In Wahrheit war Odas großer Sieg verabscheuungswürdiger, kaltblütiger Mord. Aber manchmal sind verabscheuungswürdige, kaltblütige Mordtaten eben notwendig.«
»Das war kein Mord! Das war der kühne Streich einer zahlenmäßig weit unterlegenen Armee!«, rief Tarō aus. Die Bevölkerung von Kantō verehrte den Daimyō Oda, und Tarō betrachtete ihn immer noch als Verkörperung aller Samurai-Ideale, trotz der vielen leeren Dörfer, die er gesehen hatte, trotz der verheerenden Folgen des Krieges für die einfachen Leute. »Und außerdem ist ein Sieg an sich schon ehrenvoll. Daimyō Oda hat einer viel größeren Armee eine gewaltige Niederlage zugefügt. Also ist seine Taktik entschuldbar.«
»Ah«, sagte Shūsaku. »Jetzt begreifst du es allmählich.«
Kapitel 14
Sobald es dunkel geworden war, setzten sie ihren Weg westwärts ins Vorgebirge fort und ließen das breite Tal zurück, das wie eine riesige flache Schale hinter ihnen lag.
Sie kamen an vielen verlassenen Hütten vorbei, und Tarō begriff allmählich, welche Auswirkungen die teuren Kriege hatten, die Daimyō Oda gegen Imagawa und andere geführt hatte. Er sah diese Auswirkungen an der eingeschüchterten Bevölkerung, dem Mangel an jungen Männern – die meisten von ihnen waren getötet oder von vorüberziehenden Armeen rekrutiert worden – und den jämmerlich mageren Kindern. Shūsaku erklärte ihnen, dass Oda erst kürzlich die Steuer auf Reis ein weiteres Mal angehoben hatte, um einen neuen Feldzug gegen einen kleinen, rebellischen Daimyō zu finanzieren. Für viele Bauern bedeutete das, dass sie ihre gesamte Ernte abgeben mussten und ihnen nichts mehr zu essen blieb.
Shūsaku führte die Jungen durch die Wälder, auf Pfaden, die Füchse und Rehe gebahnt hatten. Dabei hielt er stets nach breiteren Wegen Ausschau, die auf das Kommen und Gehen von Menschen hinweisen könnten. Tarō stellte fest, dass sein Geruchssinn besser war als je zuvor. In der Dunkelheit konnte er zwar wenig sehen, doch er nahm den Geruch von wildem Knoblauch, Baumsaft und Rehkot wahr.
Auf einer offenen Lichtung mit einer saftigen Wiese, genährt von einem klaren Bergbach, machten sie Halt. Shūsaku zog ein paar wilde Orchideen aus dem Boden und gab die Wurzeln Hirō zu essen, der sie dankbar nahm und kaute, während sie weitergingen.
»Nur noch ein Tal, dann kommen wir zu dem Dorf, in dem die Äbtissin lebt«, erklärte Shūsaku. » Wir müssten es noch heute Nacht erreichen.« Er blieb stehen, um Spuren im Moos zu untersuchen. »Nur ein Hirsch«, sagte er. Dann blickte er zum Himmel auf. »Ihr werdet die Mädchen mögen. Sie werden gute Verbündete in dem Leben sein, das ihr bald beginnt.«
»Verbündete?«, fragte Tarō. »Meinst du nicht Freunde?«
Shūsaku lächelte. »Das ist ein und dasselbe.«
Bald ging es steil bergan, und Ahorn und Eichen wichen Kiefern, die sich an Erde und Felsen klammerten, mit knorrigen Fingern wie denen alter Männer. Shūsaku stieg schräg den Berg hinauf und hielt auf einen schmalen Pass zu, der vom Tiefland in die wildere Landschaft des Westens
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