Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
glatt. »Und jetzt sollte ich wohl nachsehen, was ich in der Zukunft der anderen erkennen kann.« Sie winkte Hirō heran. »Komm. Setz dich vor mich hin.«
Hirō stand argwöhnisch auf und ging zu ihr hinüber.
Die Äbtissin nahm seine Hand und nippte an ihrem Tee. Sie sang eine Weile vor sich hin, während der duftende Rauch im Raum sich auf merkwürdige Weise am Boden zu sammeln schien, und dann rollten ihre Augen im Kopf zurück. Sie stellte die Teetasse ab, griff nach dem Metallstab und kratzte ein Zeichen in den Sand.
»Treue«, sagte Shūsaku.
Tarō lächelte Hirō an. Die Augen der Äbtissin drehten sich wieder in ihre normale Stellung, und sie sah den kräftigen Ringer blinzelnd an. »Du bist ein guter Freund«, sagte sie. »Und ich sehe, dass du Tarō überallhin folgen wirst. Doch dein Weg wird nicht immer leicht sein.«
Hirō zuckte mit den Schultern. »Ich gehe mit Tarō.«
»Ja. Natürlich.« Sie wandte sich Tarō zu. »Dürfte ich die Narbe einmal sehen?«
Shūsaku beobachtete Tarō ebenfalls, als er den oberen Teil seines Kimono auffaltete und den Halbkreis aus hellem Narbengewebe entblößte, der sich um seine Brust und Schulter zog.
»Ihr Götter«, entfuhr es dem Ninja. » Wie ist das passiert?«
Hirō antwortete an Tarōs Stelle. »Ich bin nicht in Kantō aufgewachsen. Ich stamme aus dem Binnenland – aus der Ebene unterhalb von Nagoya. Wir sind geflohen, als Daimyō Imagawas Samurai auf unser Land vorrückten. Meine Eltern verstanden nichts vom Fischen. Sie haben sich ein Boot geborgt und sind in die Bucht hinausgerudert. Dann haben sie Blut ins Wasser gekippt, um die Fische anzulocken. Ich war bei ihnen, und keiner von uns konnte schwimmen.«
»Aha«, sagte Shūsaku.
»Ein Mako hat uns aus dem Boot geschleudert. Das Biest hat meinen Vater getötet, und meine Mutter ist ertrunken, glaube ich. Aber Tarō hat an diesem Tag am Ufer gespielt, mit seinem Bogen. Er hat die Flosse gesehen, aber er ist trotzdem in die Bucht hinausgeschwommen. Er hat mich gepackt und mich ans Ufer zurückgeschleppt.«
»Erstaunlich«, bemerkte Shūsaku. » Welch ein Mut.«
»Ich kann mich kaum daran erinnern«, sagte Tarō verlegen.
Heikō berührte sacht die Narbe. »Und wie ist es nun dazu gekommen?«
»Er ist noch einmal hinausgeschwommen, nachdem er mich an den Strand gebracht hatte«, berichtete Hirō. »Er hat nach meinen Eltern gesucht. Er hatte ein Messer dabei –«
»Du willst doch nicht etwa sagen, dass er mit dem Hai gekämpft hat?«, unterbrach ihn Yukiko. Zum ersten Mal hörte Tarō einen Anflug von Respekt in ihrer Stimme.
»Doch«, antwortete Hirō. »Er hat ihn getötet und an den Strand geschleppt, um ihn mir zu zeigen. Aber der Hai hatte ihn gebissen. Tarō hat das Bewusstsein verloren, und ich bin schreiend ins Dorf gelaufen. Sein Vater hat ihn nach Hause getragen.«
»Jetzt verstehe ich, weshalb du ihn niemals im Stich lassen würdest«, sagte Shūsaku.
»Ja. Mein Leben gehört ihm.«
Die Äbtissin strich den Sand wieder glatt. »Deine Treue wird natürlich einen hohen Preis von dir fordern. Das weißt du, nicht wahr?«
Hirō lächelte. »Das ist bei allen Dingen so, die etwas wert sind.«
»So ist es.« Sie bedeutete Shūsaku, Hirōs Platz einzunehmen. Er zögerte.
»Ich weiß nicht recht –«
»Komm her, Shūsaku.«
Shūsaku schien sich weigern zu wollen, tat es aber nicht. Er setzte sich auf das Kissen, das Hirō eben geräumt hatte, und starrte die Wahrsagerin mit seinen harten, klaren Augen an. Sie trank noch eine Tasse Tee, begann zu singen und fiel bald wieder in Trance. Mit dem Metallstab zeichnete sie eine Botschaft in den Sand.
Als ihre Augen sich wieder öffneten, blickte sie auf das Zeichen hinab. Sie zitterte leicht. Auch Shūsaku las die Botschaft im Sand und wandte sich dann hastig ab.
»Was steht da?«, wollte Heikō wissen.
Die Äbtissin blickte mit Tränen in den Augen auf, und ihr faltiges Gesicht schien in den vergangenen Sekunden um zehn Jahre gealtert zu sein. »Da steht …«, begann sie mit zitternder Stimme. »Da steht: ›Hüte dich. Deine Augen werden dich verraten.‹«
Sie starrte Shūsaku an. »Du musst sehr vorsichtig sein«, sagte sie, plötzlich ernst. »Ich spüre große Gefahr für dich.«
Tarō fragte sich, in welcher Beziehung diese Frau zu Shūsaku stehen mochte. Sie schien aufrichtig um ihn besorgt zu sein.
»Unsinn«, sagte Shūsaku und erhob sich. »Mir droht keinerlei Gefahr, solange ich weiterhin wachsam bleibe.«
Weitere Kostenlose Bücher