Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
lächelte. »Du siehst also, es wird seit Langem prophezeit, dass der Sohn einer Ama eines Tages über Japan herrschen wird.« Sie verneigte sich vor Tarō. »Vielleicht bist du dieser Mann.«
Tarō war erschüttert. Er setzte sich auf die Kissen nieder, und seine Gedanken überschlugen sich. War das möglich? Er konnte nicht lesen, er wusste nicht einmal, wie man sich in zivilisierter Gesellschaft benahm, und er war ein Vampir. Ein solcher Junge konnte gewiss niemals zum Shōgun von Japan werden, oder? Und doch hatten ihn vor allem zwei Einzelheiten berührt. Erstens war die Frau, die den Sohn des Kaisers geheiratet hatte, aus Shirahama gekommen.
Demselben Dorf, aus dem er stammte.
Zweitens hatte sie die Buddha-Kugel aus dem Wrack eines königlichen Schiffes vor der Küste geborgen. Einem Wrack wie jenem, vor dem man ihn sein Leben lang gewarnt hatte, damit er sich ja davon fernhielt. Kurz vor dem Überfall hatte seine Mutter bei genau diesem Wrack getaucht.
Tarō runzelte die Stirn. Warum hatte seine Mutter dort getaucht? Als er sie danach gefragt hatte, hatte sie etwas Seltsames gesagt – aber was? Er forschte in seiner Erinnerung danach. Etwas darüber, dass sie stets von der See nahmen und –
Shūsaku trat vor. »Das verändert alles«, sagte er. »Erstaunlich. Ich wusste ja, dass der Junge etwas Besonderes ist, aber das ist …« Er wedelte mit der Hand, um anzudeuten, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. » Wir müssen bald wieder aufbrechen«, erklärte er unvermittelt. »Tarō wird erst in Sicherheit sein, wenn wir den Berg erreicht haben.«
Die alte Frau nickte. »Sie müssen ihn aus dem Weg räumen, ehe irgendjemand anders nach dem Shōgunat greifen kann. Sofern ihnen die Prophezeiung bekannt ist und sie glauben, dass dies der Junge ist, den sie beschreibt.«
»Wartet«, sagte Tarō. » Wollt Ihr damit sagen, dass diese Leute mich wegen irgendeines alten Märchens töten wollen? Ich bin doch nur ein Bauer.«
»Und ich sage dir immer wieder, dass Bauern zu töten eine Hauptbeschäftigung der Daimyō ist«, erwiderte Shūsaku.
»Nein«, erklärte die alte Frau. »Der Junge hat recht. Da muss noch mehr sein. Denk einmal darüber nach. All diese Ninja, um einen einzigen Jungen zu töten? Das ist nicht nachvollziehbar.«
»Was also dann?«
»Es steckt alles in der Geschichte«, antwortete die Frau. »Ich sollte dir wirklich nicht jede Kleinigkeit erklären müssen.«
Plötzlich beugte Heikō sich vor. »Der Junge ist nicht die einzige mächtige Figur in der Geschichte.«
Yukiko riss die Augen auf. »Die Kugel.« Die alte Frau nickte lächelnd.
»Was ?«, fragte Shūsaku. »Nein – das ist doch nur eine Erzählung. Jeder weiß, dass es die Buddha-Kugel nicht wirklich gibt. Ich meine, ich habe von ihr gehört, aber es ist nur …«
»Eine Geschichte?«, beendete Hirō den Satz. »Das hast du auch zu mir gesagt, als ich erklärt habe, dass ich nicht an Vampire glaube.«
Shūsaku stieß den Atem aus. »Ihr Götter.« Er wandte sich der alten Frau zu. »Ihr glaubt doch nicht, dass es sie tatsächlich gibt, oder?«
»Ich habe die Zukunft gesehen«, entgegnete sie. »Ich weiß, dass es sie wirklich gibt.«
Kapitel 21
Die Äbtissin gähnte, denn es hatte sie ermüdet, ins Tao zu schauen. Erst da bemerkte Tarō etwas in ihrem Mund – leicht verlängerte Reißzähne mit scharfer Spitze – und begriff …
»Ihr seid ein Vampir«, sagte er.
»Ja. Nicht nur Jungen spielen gern Attentäter.«
Shūsaku lachte über Tarō. »Ich hatte mich schon gefragt, wann du es merken würdest.«
»Dir ist vielleicht aufgefallen«, fuhr die Wahrsagerin fort, »dass vor meiner Tür keine Laternen oder Windspiele hängen. Ich brauche mein Haus nicht vor bösen Geistern zu schützen, verstehst du? Ich bin ja schon da. Allerdings ist es in dieser Provinz in letzter Zeit gefährlicher geworden. Daimyō Oda fürchtet sich und verlangt ständig von mir, ihm die Zukunft vorherzusagen. Das ist sehr lästig.«
»Ihr gehorcht ihm noch immer?«, fragte Shūsaku ein wenig scharf.
»Er hat mich beschützt«, erwiderte die Äbtissin. »Und ich ziehe es vor, nicht offen Partei zu ergreifen.«
»Was ist mit den Mädchen?«, fragte Shūsaku.
»Du hast ihnen das Leben gerettet. Da ist es nur angemessen, dass du bestimmst, wem sie die Treue halten sollten.«
Shūsaku nickte, während Tarō verwirrt versuchte, diese Unterhaltung zu begreifen.
Die Äbtissin strich mit einer Hand den Sand auf dem Tablett
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