Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Junge im Garten des Palastes unter den Kirschblüten. Als er in die Bäume aufblickte, sah er zwei Vögel, die ihre Jungen im Nest wärmten. Wenn das Weibchen davonflog, um einen Wurm oder eine Fliege zu fangen und ihre Jungen damit zu füttern, wärmte der Vater das Nest. So wechselten sich die beiden Eltern darin ab, ihre Brut aufzuziehen. Als der Junge das sah, überkam ihn Hosshin – der Wunsch nach Erleuchtung –, und er wusste, dass er ein Mönch werden musste. Doch der Anblick des Vogelweibchens, das Würmer jagte, erinnerte ihn schmerzlich an das größte Hindernis auf seinem Weg zur Erleuchtung: seine Zuneigung zu einer Mutter, die er nicht einmal kannte. ›Seit Anbeginn der Welt hatte jedes Geschöpf – selbst die Tiere, bis hinab zum niedersten Hummer in der Bucht – zwei Eltern. Wie ist es möglich, dass ich, der Sohn des Kaisers, keine Mutter habe?‹
Eine Dienerin hörte ihn und brach in Tränen aus. ›Wenn Ihr Eure Mutter zu finden wünscht, solltet Ihr sie an der Küste suchen, in der Nähe des Dorfes Shirahama‹, sagte sie. Fusazaki bedrängte sie, ihm mehr zu erzählen, doch sie fürchtete, sie könnte schon zu viel gesagt haben, und verschloss sich wie sein Vater. Frustriert machte Fusazaki sich am nächsten Tag zur Küste auf, fest entschlossen, die Frau zu finden, die ihn auf die Welt gebracht hatte. In jedem Dorf fragte er nach ihr, und ob je ein Edelmann dort gewesen wäre und eine Frau aus dem Dorf geheiratet habe, doch die Dorfbewohner lachten ihn nur aus.
›Wenn Edelmänner hierherkämen und unsere Frauen heiraten würden, glaubt Ihr, dann würden wir noch hier im Sand knien und Seetang trocknen, um Salz zu gewinnen?‹
Doch eines Tages begegnete Fusazaki einer jungen Frau, die vor Aufregung errötete, als er seine Geschichte erzählte. ›Ich habe einen Brief für Euch, von Eurer Mutter‹, sagte sie. Als aber Fusazaki die Hand nach dem Brief ausstreckte, löste sich die Frau zu einer feinen Gischtwolke auf und sprach: ›Ich bin der Geist der Ama, die deine Mutter war.‹
Fusazaki las den Brief: ›Dreizehn Jahre sind vergangen, seit meine Seele zum anderen Ufer reiste. Viele Tage und Monate sind vergangen, seit der weiße Sand meine Knochen am Meeresgrund bedeckte. Die Straße des Todes ist so dunkel wie das tiefe Meer, und ich kann den Weg nicht finden – niemand hat um mich getrauert, und mein Karma lastet schwer auf mir, denn ich habe Unheil in die Welt gebracht, indem ich deinem Vater die Kugel gab. Mein lieber Sohn, bitte bringe, was dein Vater und ich gestohlen, ins Meer zurück und erhelle die Finsternis, die mich seit dreizehn Jahren umgibt.‹
Fusazaki suchte sich ein kleines Gasthaus, in dem er sich für einen längeren Aufenthalt bequem einrichten konnte, und begann mit den traditionellen Trauerriten. Neunundvierzig Tage lang trug er nur die grauen Trauergewänder, und alle sieben Tage opferte er den Buddhas und Bodhisattvas im Tempel. Jeden Abend sprach er das Nembutsu und flehte den Amida Buddha an, die Seele seiner Mutter auf den rechten Weg zu führen.
Nachdem die Trauerzeit vorüber war, kehrte Fusazaki nach Hause zurück und stahl die Buddha-Kugel, die sein Vater neben seinem Kopfkissen verwahrte. Dann reiste er wieder zu dem Strand, wo seine Mutter ihm ein zweites Mal erschien – diesmal als eine Apsara aus dem Paradies mit dem Hokke-kyō, dem Lotos-Sutra, in der Hand. Sie nahm die Kugel und ließ sie ins Meer fallen. Dann tanzte sie mit dreizehn anmutigen Bewegungen den heiligen Tanz leichtfüßig auf dem Wasser. ›Ich danke dir dafür, dass du mich befreit hast, mein Sohn‹, sagte sie. ›Ich freue mich auf den Tag, da du Kaiser sein wirst, denn du bist ein guter Mann.‹
›Aber ich soll kein Kaiser werden‹, entgegnete Fusazaki. ›Vater hat einen seiner anderen Söhne – meinen Halbbruder – zu seinem Erben ernannt.‹
Die Frau hielt in ihrem Tanz inne. ›Was sagst du da?‹
Fusazaki wiederholte seine Worte. Das Gesicht seiner Mutter verfinsterte sich vor Zorn. Sie war den Göttern schon sehr nahe, und ihre Zaubermacht war unendlich. ›Dann belege ich in diesem Augenblick das Haus des Kaisers mit einem Fluch. Niemals mehr wird der Kaiser Macht über dieses Land besitzen. Die Herrschergewalt wird Edelmännern in die Hände fallen, die mehr dem Kampf zugeneigt sind als der Poesie, und Krieg und Blutvergießen werden kein Ende nehmen, bis der Sohn einer Taucherin dieses Land regiert.‹«
Kapitel 20
Die Äbtissin
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