Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Doch Tarō fand, dass er nervös wirkte.
»Könnt Ihr uns nicht mehr sagen?«, fragte Tarō. »Und damit Shūsaku helfen, die drohende Gefahr zu meiden?«
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Manchmal sehe ich ganze Szenen, wie die, in der du Hirō vor dem Hai gerettet hast. Aber manchmal kommen nur einzelne Sätze oder Gedanken durch. Sich mit dem Tao zu verbinden ist ein wenig wie träumen. Manchmal träumt man farbig, manchmal erinnert man sich nach dem Aufwachen an seine Träume und manchmal nicht. Es kommt vor, dass ich etwas in den Sand schreibe und mich nicht daran erinnern kann, das getan zu haben, wenn ich aufwache.«
»Wie war es, als Ihr vorhin sagtet, ich würde Shōgun werden?«, fragte Tarō.
»Es war … im Fluss des Tao. Ich habe es nicht gesehen, aber ich konnte spüren, wie alles in der Welt darauf zuführt. Du kannst dem Thron des Shōgun ebenso wenig ausweichen, wie der Mond es vermeiden könnte, um die Erde zu kreisen. Eine einzelne Szene habe ich allerdings gesehen – du mit der Buddha-Kugel in der Hand. Du warst nicht viel älter, als du jetzt bist.«
»Und ich sage es noch einmal«, warf Shūsaku ein, »diese Buddha-Kugel gibt es in Wirklichkeit gar nicht.« Doch er klang nicht sehr überzeugt, und Tarō fragte sich, ob Shūsaku das glauben wollte, damit er auch daran glauben konnte, dass er nicht in Gefahr war. » Wenn sie echt wäre, wäre sie doch längst irgendwo aufgetaucht. Ein so mächtiger Gegenstand könnte nicht so lange verborgen bleiben.«
Die Äbtissin zuckte mit den Schultern. »Es heißt, nach Tankais Tod hätte sein zum Nachfolger erklärter Sohn nach der Kugel gesucht, sie aber nicht finden können. Natürlich verdächtigte man Fusazaki. Er war ein enterbter Sohn und hatte somit allen Grund, Tankai zu hassen. Außerdem wussten alle, dass seine Mutter die Kugel aus dem Wrack geborgen hatte. Doch als sie Fusazaki aufspürten, lebte er in dem kleinen Dorf Shirahama, ganz in der Nähe der Stelle, an der seine Mutter gestorben war. Er wohnte in einer einfachen Hütte, badete in den Onsen, meditierte und aß rohen Fisch.«
Ein Schauer lief Tarō den Rücken hinab, als sie – erneut – das Dorf erwähnte, in dem er aufgewachsen war. Diese gewichtigen Ereignisse konnten sich gewiss nicht vor einem so bescheidenen Hintergrund abgespielt haben?
Die Äbtissin gähnte erneut, und Tarō sah, dass die Anstrengung ihren Tribut gefordert hatte. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, und ihre Haut war blass. Sie versuchte aufzustehen, doch ohne Vorwarnung gaben ihre Beine plötzlich nach, und sie fiel. Shūsaku sprang hinzu und fing gerade noch ihren Kopf ab, ehe er auf den Dielenboden knallen konnte. Er ließ sie sacht auf die Kissen sinken. Auch Heikō und Yukiko waren sofort aufgesprungen und knieten sich nun neben ihre Ziehmutter. Yukiko fuhr vorwurfsvoll zu Shūsaku herum. »Du hast sie völlig erschöpft!«
»Nein«, sagte der Ninja. »Schau dir ihre Augen an. Sie ist in Trance. Sie sieht irgendetwas.«
In diesem Moment riss die Frau die Augen auf, aber sie waren weiß wie Eier, denn die Pupillen waren in den Kopf zurückgerollt. Sie richtete diesen gespenstischen, leeren Blick auf Tarō, und das Grauen stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben wie die Botschaften, die sie in den Sand geritzt hatte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie rappelte sich auf und ließ Tarō nicht aus den Augen.
»Haltet mich von diesem Jungen fern«, murmelte sie. »Er bringt allen um ihn herum den Tod.«
Tarō spürte einen überwältigenden Drang, vor ihr davonzulaufen, so weit er nur konnte. Shūsaku raunte der Frau beruhigende Worte zu. Ebenso plötzlich, wie ihre Augen sich geöffnet hatten, schlossen sie sich wieder. Gleich darauf sah sie Shūsaku verwirrt an und blinzelte, als sei sie aus einem dunklen Schlafzimmer ins helle Tageslicht getreten.
»Was habt ihr?«, fragte sie.
Kapitel 22
Die Äbtissin erinnerte sich nicht an ihre Vision. Sie erklärte, sie sei unerträglich müde, und Shūsaku führte sie zu ihrem Zimmer. Yukiko funkelte Tarō böse an und eilte dann den beiden nach.
Heikō warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Sie liebt die Äbtissin sehr«, erklärte sie. »Es ist schrecklich für Yukiko, sie so verängstigt zu sehen.«
»Ich verstehe«, sagte Tarō düster. Er hatte den Tod seines Vaters verursacht, und nun schien es, als würde er in Zukunft für noch mehr Unglück verantwortlich sein. Er wurde das Bild der Äbtissin, die ihn mit
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