Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
schwiegen wieder eine Weile.
»Fährst du dann mit ihr nach Bern anstatt mit mir?«
»Hör auf, Fred, du spinnst doch. Ich fahre nur mit dir, mit keinem sonst.«
»Abgemacht.«
»Abgemacht.«
»Jetzt schlaf.«
»Du auch.«
Natürlich schliefen sie nicht. Jeder träumte mit offenen Augen und schmerzendem Rücken vor sich hin. Jeder träumte für sich, und doch träumten sie dasselbe ins Dunkle hinein, bis es dämmerte.
* * *
Sie saßen mal wieder auf der Kastanie auf dem Friedhof und schauten heimlich beim Pfarrer durchs Fenster. Der saß erneut in Unterhose und Trägerhemd vor dem Fernseher und schenkte sich ohne hinzugucken Bier aus einem Krug in ein Glas ein. Auf dem kleinen Bildschirm rannten Männer in kurzen Hosen einem Ball hinterher. Vom Baum aus konnte man den Ball nur erahnen.
»Wenn die jetzt gewinnen, sind sie im Endspiel!« Es war Karl, der es auf den Punkt brachte.
»Und wir auch.«
»Du meinst, dann fahren wir?«
»Klar!«
Sie kicherten.
»Das wär was! Wir auf der Tribüne, und die deutschen Kicker auf dem Feld.«
Der Pfarrer sprang plötzlich von seinem Sessel auf und streckte die Arme in die Luft. Durch das halb geöffnete Fensterhörten wir Pfarrer Mühlacker jubeln, als hätte er höchstpersönlich den Treffer erzielt. Natürlich mit Gottes Hilfe.
»Eins null für uns!«, rief Fred.
»Das Finale rückt näher«, sagte Karl.
Sie hoben die Hände, klatschten sich ab und schauten wieder der jetzt wie aufgedreht spielenden deutschen Mannschaft zu.
Noch sechs Mal hüpfte der Pfarrer vom Sessel hoch. Der Jubel wurde immer lauter und ausgelassener. Was sicher auch mit den drei Krügen Bier zu tun hatte, die er jetzt verkonsumiert hatte. Beim Schlusspfiff wackelte Pfarrer Mühlacker mit den Hüften und tanzte wie dieser amerikanische Sänger, den alle nur »The King« nannten, in Unterhose und Trägerhemd im Zimmer herum. Die Unterhose rutschte dabei immer wieder bis fast zu den Knien, sodass der nackte Priesterhintern zu sehen war. Fred und Karl fielen vor Lachen beinahe vom Baum.
Dann klatschten sie sich wieder ab.
»Auf nach Bern!«
»Auf nach Bern!«
* * *
»Los, komm schon!«
Sie hangelten sich am Dachrinnenrohr nach unten. Ohne dass der olle Geyer sie bemerkte, verließen sie das Heim. Sterne standen am Himmel und blickten verwundert auf sie hinunter. Die Jungs sahen hoch, zwinkerten und wussten, jetzt geht ein Traum in Erfüllung.
Die Räder standen abfahrtbereit vor Spints Scheune. In der Nacht zum ersten Juli stiegen Karl und Fred in die Pedale und fuhren los. Noch vier Tage bis zum Endspiel.
»Das muss reichen!«, sagte Karl.
»Bestimmt!«, ergänzte Fred.
»Deutschland gegen ungarn!«
»Dann mal los!«, kam von Karl.
»Dann mal los!«, wiederholte Fred.
* * *
Als die Sonne aufging, hatten sie Oberhausen schon hinter sich gelassen.
Sie fuhren auf Feldwegen und Bundesstraßen. Die Sonne schien, und der frische Wind blies ihnen um die Nasen.
Ich steckte in einem umhängebeutel, wo auch die Schmalzbrote und eine Flasche Milch auf bewahrt wurden.
Immer wieder hielten Fred und Karl an und studierten die Landkarte, die Spint ihnen geborgt hatte. Die Jungs hatten eine blaue Kugelschreiberlinie in die Karte gezeichnet und verglichen sie nun mit den Ortschaften und Städten, durch die wir fuhren.
»Duisburg.«
»Stimmt.«
»Dann kommt als Nächstes Düsseldorf.«
»Hoffentlich. Wenn nicht, sind wir falsch.«
»Lassen wir uns überraschen.«
»Na, dann los!«
Schon ging es weiter.
Am ersten Tag hatten sie schon fast zweihundert Kilometer hinter sich gebracht. Am Abend waren sie erschöpft und hundemüde. In einem alten Heuschober am Rande einer Ortschaft legten sie sich zwischen die Strohballen und lauschten den Geräuschen ringsum, die nicht verstummen wollten.
»Katzen, Mäuse!«
Beide waren so müde, dass ihnen jeden Augenblick die Augen zufallen mussten. Zugleich waren sie so aufgeregt und ängstlich, dass sie sich nicht vorstellen konnten, auch nur einen Moment zu schlafen.
»Hast du Muffensausen?«, fragte Fred in die trübe Dunkelheit hinein.
»Ein bisschen. Und du?«
»Auch.«
Ganz in der Nähe erklang ein Maunzen. Dann ein Rascheln. In der Ferne bellte ein Hund.
»Verdammt!«, flüsterte Karl. »Mein Hintern brennt wie ein Feuerwerk!«
»Und meiner erst!«
»Ich glaube, wenn wir in Bern ankommen, musst du mich ins Stadion schieben, laufen kann ich dann nicht mehr.«
Karl kicherte.
»Bist du froh, dass wir’s gemacht haben?«
»Ja. Und
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