Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Licht ins Dunkel. Auf dem Schulhof wurde getuschelt, dass auch Luzie verschwunden sei.
»Wie verschwunden?«, fragte Miriam, die es gar nicht glauben konnte.
»Na, abgehauen«, sagte Tom.
»Wie abgehauen?«
»Sag mal, bist du so blöd, oder tust du nur so?«, mischte sich jetzt ein anderer Junge ein. »Nach drüben, in den Westen, mit ihrer Mutter.«
»Nein!«
»Doch!«
* * *
Nach der Pause ging der unterricht erstaunlicherweise nicht wie gewohnt weiter. Stattdessen wurden alle Schüler einzeln nacheinander ins Zimmer des Schulleiters gebracht. Auch Miriam. Da saßen drei fremde Männer, die stark nach Rasierwasser rochen und Miriam freundlich aufforderten, sich auf den Stuhl zu setzen, der vor ihnen stand. Miriam stellte ihre Schultasche neben den Stuhl und gehorchte.
»Wie geht es dir?«, fragte einer der Männer freundlich und stellte sich genau neben Miriams Stuhl.
Er war nicht gerade groß, trug einen Anzug, der bei jeder Bewegung knisterte, und hatte einen kugelrunden Bauch. Die beiden anderen Männer waren eher schmal und saßen hinter dem Tisch des Schulleiters, die Beine übereinandergeschlagen. Einer der beiden hatte ein Heft vor sich liegen, in das er ab und zu etwas hineinschrieb.
»Mir geht’s gut«, sagte Miriam verängstigt, als würde sie sich fragen, was das alles zu bedeuten hatte.
Ich, in der Schultasche, fragte mich das natürlich auch.
»Du bist doch die Freundin von Luzie, nicht wahr?«, sagte der Mann neben ihr, wobei er seine Brille abnahm und sich hinter den Ohren kratzte.
Miriam nickte.
»Wann hast du Luzie das letzte Mal gesehen?«
Der Mann setzte die Brille wieder auf.
»Letzte Woche in der Schule.«
Wieder schrieb der Mann am Tisch in das Heft, das vor ihm lag.
»Und was habt ihr so gemacht?«
»Gespielt«, sagte Miriam, während der Mann neben ihr einmal langsam um sie herumging.
Dann beugte er sich ein wenig zu ihr hinunter und starrte sie intensiv an.
»Hat Luzie darüber gesprochen?«
»Worüber?«
Der Mann richtete sich wieder auf.
»Dass sie flüchten wollte?«
»Nein.«
»Worüber habt ihr denn so gesprochen?«
Miriam dachte kurz nach. »Über die Schule«, sagte sie dann wie selbstverständlich.
»Über die Schule?«, wiederholte der Mann, während der andere wieder ins Heft schrieb. »Und sonst?«
Miriam hob die Schultern.
»Über die Ferien habt ihr doch sicher auch mal geredet, oder?«, mischte sich jetzt der dritte Mann ein. Seine Stimme klang nicht so freundlich wie die des Dicken.
»Manchmal.«
»Habt ihr euch nicht auch mal gewünscht, in fremde Länder zu reisen?«, fragte der Mann neben Miriam.
»Ich war doch schon in einem fremden Land«, sagte Miriam.
»Ach ja? Wo denn?«
»In Rumänien. Und in Polen.«
Der Schlanke lachte ganz kurz, und der Mann vor dem Heft schrieb wieder.
»Und sonst?«, fragte der Dicke.
Miriam schüttelte den Kopf.
»Und Luzies Mutter? Hat sie manchmal davon gesprochen?«
»Weiß nicht.«
»Und deine Eltern?«
»Nein.«
»Habt ihr eigentlich Westkontakte?«
»Nein.«
»Würdest du gerne mal in den Westen?«
»Nein.«
Wieder ging der Dicke langsam um Miriam herum, legte dabei eine Hand auf ihre Schulter und sagte: »Du kannst gehen.«
Miriam stand auf, nahm ihre Schultasche, aus der ich noch immer neugierig herausguckte, und wollte zur Tür gehen.
»Warte mal«, sagte der Schmale mit der unfreundlichen Stimme.
Miriam blieb stehen. Der Mann kam auf sie zu, griff in die Schultasche und zog mich heraus.
»Was ist das denn?« Er blickte mich an, als hätte er noch nie im Leben einen Nussknacker gesehen. Hatte er auch nicht. Zumindest nicht so einen wie mich.
»Wo hast du den her?«, fragte er, jetzt noch unfreundlicher als zuvor.
Miriam überlegte kurz. »Von Lisa und Hermann.«
»Wer sind Lisa und Hermann?«, wollte der Dicke wissen.
»Die Tante und der Onkel von Luzie aus dem Westen.«
»Und die haben dir diesen Nussknacker geschenkt?«
Miriam nickte.
»Wann waren sie hier?«, fragte der Dicke.
»Letztes Jahr.«
Die Männer sahen sich an, während der eine wieder etwas in sein Heft schrieb.
»Kann ich jetzt gehen?«
Der Dicke bejahte. Der Schmale steckte mich zurück in die Schultasche.
Miriam ging zur Tür, öffnete sie, blieb kurz stehen und drehte sich noch einmal zu den Männern um.
»Wo ist Luzie jetzt?«
»Im Gefängnis.«
»Was?«
»Sie wurde zusammen mit ihrer Mutter beim Grenzübertritt erwischt.«
»Und was geschieht mit ihr?«
»Sie kommt in ein Heim.«
»Und ihre
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