Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
mischte sich eine weitere Stimme ein, diesmal die eines Mannes.
»Sag nicht blöder Köter zu meinem Hund!«, rief eine Frau in einem Tonfall, der nichts Gutes ahnen ließ.
»Che!«, riefen jetzt mehrere Leute auf einmal.
»Das ist nicht dein Hund, das ist unser Hund«, hörte ich den Mann wieder sagen.
»Seit wann das denn?«, fragte die Frau erstaunt.
»Seit uns allen alles gehört.«
Die Frau lachte abschätzig.
»Da ist er ja!«, rief eine andere Männerstimme erleichtert.
Auch ich, der ich noch im Maul des Hundes hing, konnte nun Leute erkennen, die auf uns zueilten. Sie sahen irgendwie komisch aus. Sie trugen bunte Kleider, Batikhemden und enge Hosen, die um die Füße herum viel breiter waren als oben um die Hüfte. Die Männer trugen lange Bärte und noch längere Haare. Einer hatte einen Cowboyhut auf. Die Frauen hatten ebenfalls lange Haare und trugen um die Brust herum nur Bikinioberteile.
»Können wir jetzt weiterfahren?« Der Mann mit dem Cowboyhut fragte es leicht genervt, doch die anderen antworteten nicht. Stattdessen fragte eine Frau, während sie sich zu dem Hund hinunterbeugte: »Was hat der denn im Maul?«
Sie meinte natürlich Che und mich.
»Na los, Che, gib her!«
Sie griff nach mir und versuchte, mich aus dem Maul des Hundes zu ziehen. Aber Che dachte nicht im Traum daran, mich loszulassen. Er knurrte nur.
»Lass ihn in Frieden«, sagte die andere Frau.
»Lass du mich in Frieden!«, kam es postwendend zurück.
»Jetzt hört endlich auf zu streiten und steigt ein, sonst kommen wir nie in Berlin an«, meldete sich der Mann mit dem Cowboyhut zu Wort. Die anderen stiegen in einen alten, bunt angemalten VW-Bus. Auch der Hund, der mich noch immer im Maul hielt, sprang in den hinteren Teil des Wagens auf eine große Liegefläche, auf der sich auch zwei der fünf jungen Leute niederließen.
Endlich ließ Che mich los, sodass ich neben ihm auf derMatratze lag. Der Mann und die Frau beachteten mich gar nicht. Sie diskutierten, fielen sich ständig ins Wort und schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein.
»Wo soll denn die Demonstration stattfinden?«
»Vor der Oper. Der Schah geht mit dem Albertz in die ›Zauberflöte‹.«
»Und vor der Oper findet die Demo statt?«
»Klar.«
»Mensch, gib Gas!«
»Wie denn, Blödmann? Da vorne ist die Grenze«, sagte der Mann mit dem Hut, der am Steuer des Busses saß.
Und tatsächlich: Vor uns lag die Grenzanlage zur DDR . Es sah beeindruckend, aber auch Furcht einflößend aus. Alle verstummten, als der Bus im Schritttempo auf den geschlossenen Schlagbaum und die misstrauisch dreinblickenden Grenzbeamten zurollte. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und hielt einem der Grenzer die zuvor eingesammelten Reisepässe der Businsassen entgegen. Dabei lächelte er freundlich.
»Machen Sie den Motor aus«, sagte der Beamte unfreundlich, griff nach den Papieren und verzog sich damit in eine der Grenzbaracken.
»Das kann ja heiter werden«, flüsterte der Fahrer. Er zündete sich eine selbstgedrehte Zigarette an und zog dabei hässliche Grimassen. Zwei Uniformierte mit einem Schäferhund an der Leine gingen um den Bus herum, als hätten sie den Verdacht, er würde für Drogen-, Waffen- oder Menschenschmuggel verwendet.
»Steigen Sie mal aus«, sagte schließlich ein weiterer Beamter und sah dabei so grimmig aus wie der Schäferhund, der jetzt aufgeregt an seiner Leine zerrte.
Alle stiegen widerwillig und lautlos schimpfend aus dem Bus. Che nahm mich wieder ins Maul und sprang an der Schiebetür vorbei auf den Asphalt. Woraufhin der Schäferhund des Grenzbeamten plötzlich gar nicht mehr so mürrisch dreinblickte. Offenbar wollten die beiden Hunde sich über die Grenzen hinweg anfreunden. Das wiederum schien dem Grenzbeamten nicht zu behagen, sodass er immer wieder »Aus! Erich, aus!« zischte. Dann rief er den jungen Leuten zu: »Nehmen Sie Ihren Köter an die Leine!«
Tja, das war ein Problem. Die jungen Leute aus dem angemalten VW-Bus hatten nämlich gar keine Leine.
Sie sahen sich verdutzt an und fragten, mehr sich selbst als den Beamten: »Was für eine Leine?«
Der Grenzer blickte noch verwirrter drein und rang um Worte, fand aber keine, während sein Hund noch wilder an der Leine zerrte, als wollte er sich mitsamt dem Beamten davonmachen.
che schien der Grenzbeamte nicht sonderlich zu beeindrucken. Er rannte noch immer mit mir zwischen den Autos herum, pinkelte an Reifen, Grenzbaracken und Kotflügel und schien sich an der
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