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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Hinterhof durch nacheilende Beamte gestellt. Auch Che traf ein Knüppel auf den Rücken, sodass er das Maul aufriss und vor Schmerz losheulte. Als er das Maul wieder schloss, war ich bereits herausgefallen und lag auf dem Asphalt. Natürlich wollte Che mich sofort wieder aufheben, aber ehe er sich bücken konnte, fiel ein Schuss. Che erschrak so sehr, dass er sich davonmachte – ohne mich.
    Ich lag wie gelähmt auf dem Asphalt. Während der Schuss in der Nacht verhallte, kam es mir so vor, als liefe von nun an alles in Zeitlupe ab.
    Nur ein paar Meter von mir entfernt lag ein Mann auf derErde. Er hatte ein rotes Hemd an und blutete. Daneben kniete sich jetzt eine junge Frau und hielt seinen Kopf.
    »Nicht schlagen! Bitte holen Sie die Ambulanz«, rief sie den Polizeibeamten zu, die noch immer mit ihren Schlagstöcken in der Luft herumwirbelten. Der regungslos daliegende Mann sah so aus, als würde er jeden Moment sterben. Er blutete aus den Ohren und dem Mund.
    Irgendwie kam mir das Ganze wie ein böser Traum vor. Erst als ein junger Mann nach mir griff und mich in Richtung der Polizisten schleudern wollte, wie zuvor schon ein paar Pflastersteine, merkte ich, dass alles wirklich war. Der junge Bursche hatte bereits zum Wurf ausgeholt, als er plötzlich verharrte.
    Ob es mit dem verletzten jungen Mann zu tun hatte, der in der Nähe sterbend auf dem Boden lag, oder mit etwas anderem, wusste ich nicht. Auf jeden Fall warf er mich nicht durch die Luft, sondern besah mich genauer. Dann ließ er mich in seiner Jackentasche verschwinden und suchte das Weite.

1968 – 1969, Frankfurt am Main, BRD
    »He, Pfoten weg, das ist meiner!«
    »Wenn, gehört er uns allen.«
    »Den hab ich aus Berlin von der Demo mitgebracht.«
    »Na und?«
    »Also gehört er mir.«
    »Und was ist mit unserem Motto ›alles allen‹?«
    »Mensch, das ist ein Nussknacker«, mischte sich eine Frau ein. »Wenn, gehört er den Kindern.«
    Die schienen aber nicht allzu sehr an mir interessiert zu sein.
    »Kinder, wollt ihr den Nussknacker?«, rief die Frau in die Runde.
    Die Kinder spielten kreischend in einer Ecke und hoben nicht einmal den Kopf.
    Ich gehörte also allen und zugleich keinem. Das war eine ganz neue Erfahrung für mich.
    »Ich schlage vor, Mike, wir geben ihn in den Kinderladen, dann kann jeder mit ihm spielen, der Lust hat«, sagte die Frau.
    Mike gab sich geschlagen. »Na gut, meinetwegen, aber nur leihweise.«
    Die Frau ging zu einem Plattenspieler und schaltete ihn ein. Musik erklang, zu der alle mit dem Kopf wippten. Manche standen auf und tanzten. Aber nicht miteinander, sondern jeder für sich. Auch die Kinder hüpften vor sich hin, als wären sie völlig durch den Wind, und kreischten: »I can’t get no satisfaction/ I can’t get no satisfaction/ ’cause I try and I try and I try and I try/ I can’t get no, I can’t get no.«
    Ich dachte, jetzt beginnen aufregende Zeiten in dieser Kommune bei all den Studenten, die ihre lange Haare schüttelten und mit den Armen und Beinen strampelten. Aber denkste. Nichts sollte daran aufregend sein. Langweilig war es, so langweilig wie selten.
    Am nächsten Tag wurde ich tatsächlich in den Kinderladen abgeschoben. Meistens lag ich unbeachtet in einer Ecke, zusammen mit anderem Spielzeug, und schaute interessiert dem Treiben der Kinder zu. Viele der Kinder, die zügellos herumtollten und dabei kreischten und schrien, waren nackt oder nur mit einer Unterhose oder Windel bekleidet.
    Hier brauchte man mich nicht. Ich ahnte schon, den Rest meines Lebens in einer Holzkiste mit kaputtem Spielzeug verbringen zu müssen. Es war eine Aussicht, die trostloser nicht hätte sein können. Manchmal hatte ich das Vergnügen am Fenster stehen zu dürfen und konnte sehen, was draußen so los war.
    Und es war einiges los. Ständig zogen junge Leute mit Plakaten, Transparenten und lockeren Sprüchen auf den Lippen durch die Straßen. Es gab fast keinen Tag, an dem nicht demonstriert wurde. Und ich war nur Außenstehender. Einschnöder Zuschauer. Wo ich doch gerne mittendrin gewesen wäre.
    Manchmal verschanzten sich Demonstranten auf der Flucht vor der Polizei im Kinderladen. Wenn die Polizisten dann nicht viel später auf der Suche nach den Flüchtigen an die Tür klopften, streckten die Kinder ihnen die Zunge heraus, und die Erzieherin deutete mit grimmiger Miene auf einen Auf kleber an der Tür, auf dem »Bullenfreie Zone« stand.
    Verwirrt zogen die Polizisten weiter, während die Demonstranten in den

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