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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Freude der Zwillinge so enttäuscht, dass er am Sonntag nicht mit den beiden zum Finale der Fußballweltmeisterschaft fuhr. Die Mutter musste ran. Sie ließ sich vom Chauffeur mit den Zwillingen zum Olympiastadion fahren. Dort saßen sie dann nebeneinander auf der Haupttribüne. Ich saß auf dem Schoß des einen.
    Das Spiel war spannend. Nach zwei Elfmetern stand es schon nach vierundzwanzig Minuten eins zu eins. Was die beiden Jungs aber nicht sonderlich zu interessieren schien. Ihre Aufmerksamkeit lag nämlich gar nicht auf dem Spielfeld, sondern bei einem Mann mit schütterem Haar, der schräg vor ihnen saß und sich ein kleines Transistorradio ans Ohr hielt, in dem das Spiel kommentiert wurde, als genügte es ihm nicht, das Finale zu sehen. Die Zwillinge starrten ihn an, als fände das Endspiel auf der nackten Kopfhaut seines Schädels statt, umgeben von den wenigen Haarsträhnen.
    »Jetzt!«, bedeuteten die beiden Jungs gleichzeitig, während aus ihren Mündern Jetzt-Gebilde drangen. Es sah aus, als wollte der eine dem anderen mitteilen, dass gleich etwas Bemerkenswertes passieren würde. Auf der Stadionuhr war die dreiundvierzigste Minute angebrochen. Aus dem kleinen Transistorradio am Ohr des Mannes mit dem schütteren Kopfhaar drang eine Stimme.
    »… auch Grabowski gefällt mir heute. Er sieht, dass Bonhof jetzt steil geht. Prompt ist der Ball bei Bonhof gelandet, im Sechzehnmeterraum, spitzer Winkel zum Tor. Da kommt derBall auf Müller, der dreht sich um die eigene Achse, schießt und … Tor! Tor durch Gerd Müller! Zwei zu eins für Deutschland!«
    Ich konnte es nicht fassen, aber wenn mich nicht alles getäuscht hatte, hatten die Zwillinge das Tor gesehen, bevor es gefallen war. Ich sah sie erstaunt an. Sie zwinkerten mir zu und lächelten kaum merklich. Es war das dritte Mal, dass ich sie schmunzeln sah.
    Während die Zuschauer von ihren Sitzen aufsprangen, jubelten und die schwarz-rot-goldenen Fahnen schwenkten, blieben die Zwillinge gelassen sitzen, als wollten sie sagen »Das war’s!« und »Mehr wird nicht passieren.«
    Es passierte auch nichts mehr. Das Spiel endete zwei zu eins für Deutschland. Die Niederlande waren geschlagen, Deutschland zum zweiten Mal nach 1954 Weltmeister. Den Zwillingen schien es egal zu sein. Der Jubel der anderen machte sie müde. Sie gähnten auffällig oft, sodass die Mutter gleich nach dem Spiel zum Auf bruch blies.
    Vor dem Stadion winkte sie ein Taxi heran und setzte sich neben die beiden Jungs auf die Rückbank.
    Kaum saßen sie im Taxi, schlug die Müdigkeit erneut zu. Die beiden schliefen sofort ein. Ich fiel dabei dem einen Jungen aus der Hand und rutschte auf den Boden. Die Mutter entdeckte mich. Sie warf einen forschenden Blick auf ihre schlafenden Söhne und schob mich dann mit dem Fuß unter den Fahrersitz. Schlange!
    In Grünwald stiegen die zwei aus, noch völlig benommen vom Schlaf und der Müdigkeit, mehr schlummernd als munter, ohne zu bemerken, dass ihnen etwas abhandengekommen war. Ich!
    Die Mutter stieg ebenfalls aus, und der Taxifahrer fuhr zurück in die Stadt.
    * * *
    Als Herr Weber, der Taxifahrer, am Wochenende sein Taxi mit einem Staubsauger reinigte, fand er mich. Ich hatte das Gefühl, er freute sich.
    »Na, wer hat dich denn verloren?«, sagte er, wischte mir mit einem flauschigen Tuch über den Körper und stellte mich auf dem Armaturenbrett ab.
    Von dem Tag an stand ich abwechselnd auf der Armatur oder steckte zwischen den Sitzen neben den Zigarettenschachteln in der Ablage des Taxis und fuhr mit Herrn Weber durch die Stadt.
    »Vielleicht holt dich ja jemand ab.«
    Herr Weber sagte es noch Wochen später. Anfangs war er noch überzeugt davon. Zuletzt aber sah ich ihm an, dass er hoffte, dass niemand mehr kommen würde, um mich abzuholen, so sehr hatte er sich an mich gewöhnt.
    Es kam auch niemand, sodass ich von nun an meinen festen Platz im Taxi hatte. Der Taxifahrer betrachtete mich seitdem als seinen Schutzpatron, seinen persönlichen Christophorus, der ja der Schutzheilige aller Reisenden ist. So kam ich mir auch vor. Der Schutzheilige des Herrn Weber.
    * * *
    Jahrelang stand ich in diesem verrauchten Taxi und fuhr meistens tagsüber, manchmal auch nachts durch die Straßen von München. Selten fuhren wir auch mal nach Augsburg oder Passau. Ich musste von morgens bis abends Radio hören unddie meist nervigen Kommentare der Fahrgäste erdulden. Ich bekam natürlich einiges mit. Vor allem durch die Nachrichtensendungen, die Herr

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