Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
verschwinden. Das war eindeutig.
»Na, dann halt nicht.«
Die Großmutter stellte die Plastiknussknacker zurück ins Regal, nahm ihre beiden Enkel an der Hand und ging weiter.
* * *
Wir standen vor einer Bankfiliale. »Ich muss ein bisschen Geld abheben«, sagte die Großmutter. »Wollt ihr hier draußen warten, oder kommt ihr mit rein?«
Die Jungen reagierten nicht.
»Na, dann kommt eben mit.«
Sie nahm sie wieder bei der Hand, stieß mit dem Fuß die Tür auf und betrat die Filiale.
Als die Großmutter mit den beiden am Schalter stand, ging die Tür der Bankfiliale erneut auf. Zwei Männer stürmten herein. Sie hatten sich schwarze Damenstrümpfe über die Köpfe gezogen, was lustig aussah. Gar nicht lustig sahen die Pistolen aus, die sie in der Hand hielten.
»Überfall! Hände hoch!«, rief der eine Täter. Es klang so aufgeregt, als würde er sich gleich in die Hose machen.
»Hinlegen!«, brüllte der andere, ähnlich angespannt.
Was denn nun? Hände hoch oder hinlegen? , dachte ich. Beides zugleich ist schwer möglich.
Erst jetzt fiel mir auf, dass es gar nicht lustig klang, sondern ziemlich ernst und entschlossen. Einige Bankkunden schrien, andere flehten: »Nicht schießen, bitte nicht schießen!«
Alle legten sich auf den Boden. Bei denen, die länger brauchten, halfen die Bankräuber nach, indem sie ihnen einen Tritt versetzten, sodass sie zu Boden fielen.
Auch die Großmutter und die Zwillinge legten sich auf den Boden.
»Das Gesicht nach unten!«, rief einer der Maskierten.
Der andere richtete seine Waffe auf eine schwarzhaarige Bankangestellte, die auf der anderen Seite des Schalters stand. Er schob ihr eine Plastiktüte zu und sagte: »Vollmachen! Dalli, dalli!«
Die junge Frau war so überrascht und aufgeregt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte Schwierigkeiten, die Geldscheine in die geöffnete Plastiktüte zu stecken.
»Los, mach schon!«
Dem Täter schien es zu langsam zu gehen.
»Schneller!«
Was zur Folge hatte, dass die Frau noch aufgeregter wurde. Von Psychologie und Einfühlungsvermögen hatten die Bankräuber, wie mir schien, keinen blassen Schimmer.
Während ich neben den Zwillingen auf dem Boden lag, kam mir das Ganze auf einmal wie ein Déjà-vu-Erlebnis vor. War nicht vor drei Jahren ein ähnlicher Banküberfall in München verübt worden, das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik mit einer Geiselnahme?
Ja, jetzt erinnerte ich mich wieder, während ich wie alle anderen auch mit dem Gesicht auf dem kalten Boden der Filialelag. Es war am 4. August 1971 gewesen, als ich auf dem Dachboden in der Kiste gehockt hatte, nicht weit vom Schauplatz des Verbrechens, der Prinzregentenstraße, entfernt. Bei dem Versuch, ins Fluchtauto zu steigen, waren damals eine Geisel sowie einer der beiden Täter beim Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommen. Eine Zuschauermenge hatte es beobachtet. Auch das Fernsehen war live dabei gewesen.
Jetzt waren nur wir live dabei. Worauf ich, Hand aufs Herz, gerne hätte verzichten können. Die beiden Jungs nicht, wie mir schien. Seltsamerweise machten sie einen völlig entspannten Eindruck. Sie lagen auf dem Boden wie im urlaub am Strand, während die beiden Täter nervös auf und ab tigerten und plötzlich wütend losbrüllten. Der Grund dafür war, dass vor der Bank Fahrzeuge mit Blaulicht auftauchten. Immer mehr Streifenwagen waren zu sehen. Über Megafon rief eine Stimme: »Hier spricht die Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus. Die Bank ist umstellt! Geben Sie auf!«
Einer der Täter schoss in die Luft. Einige Geiseln schrien, andere weinten. Nur die Zwillinge blieben ganz ruhig, fast schon cool. Ich sah, wie die abgefeuerte Kugel der Pistole die Lampenaufhängung an der Decke streifte, sodass die Lampe nur noch an einer dünnen Schnur hing. Viel zu dünn für den großen Leuchter.
Auch die Zwillinge schienen es zu erkennen. Ich sah an ihren Gesichtern, dass sie irgendwas im Schilde führten.
»Schnauze!«, schrie einer der Täter. »Sonst machen wir euch kalt.«
»Lassen Sie die Geiseln frei.« Die metallische Megafonstimme klang fiepend und wenig überzeugend.
Der andere Täter ging zur Tür, öffnete sie und schoss wieder in die Luft. »Wir verlangen ein Fluchtfahrzeug!«, rief er. »In einer Stunde, sonst werden die Geiseln erschossen!«
Wieder waren Weinen und Schluchzen von den Geiseln zu hören. Der Bankräuber kam in die Filiale zurück und zog die Jalousien an den Fenstern zu. Von nun an
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