Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Weber sich stündlich anhörte. Auch er wollte auf dem Laufenden bleiben und erfahren, was in der Welt so vor sich ging.
Für mich entpuppte sich das Leben im Taxi mal wieder nur als ein Leben aus zweiter Hand, an dem ich teilhaben durfte. Es erinnerte mich an damals, als ich im Schwimmbad in Stuttgart herumstand.
Herr Weber paffte an seiner stinkende Zigarette, dass mir bisweilen richtig schlecht wurde.
In der Weltgeschichte war zu dieser Zeit einiges los. Leider kannte ich alles, was da vor sich ging, nur vom Hörensagen. So musste zum Beispiel der deutsche Bundeskanzler wegen einer Spionageaffäre von seinem Amt zurücktreten. In Portugal wurde die Diktatur durch die sogenannte Nelkenrevolution gestürzt, bei der rote Nelken in die Gewehrläufe der Soldaten gesteckt wurden. Der französische Hochseilartist Philippe Petit ging achtmal über ein in vierhundertsiebzehn Metern Höhe gespanntes Stahlseil zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers in New York hin und her. Der Krieg in Vietnam war leider noch immer nicht zu Ende. Muhammad Ali, der Ausnahmeboxer und ehemalige Weltmeister, der schon einmal meine Lebensbahn gekreuzt hatte, gewann in einem historischen Boxkampf am 30. Oktober 1974 gegen den amtierenden Champion George Foreman erneut die Weltmeisterschaft im Schwergewicht durch einen K.-o.-Sieg.
Dazwischen hörte ich immer wieder denselben Song im Taxi, der mir irgendwann, je länger er lief, ziemlich auf dieNerven ging. Er stammte von einer schwedischen Gruppe mit dem Namen ABBA, die mit diesem Hit, »Waterloo«, in diesem Jahr den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson gewann und anschließend einen Siegeszug um die ganze Welt antrat.
Selbst erlebte ich zu dieser Zeit, Mitte der Siebzigerjahre, nicht allzu viel. Mal brachte eine Schlägerei, die Herr Weber mit einem der aufmüpfigen Fahrgäste austrug, weil der nicht bezahlen wollte, ein wenig Abwechslung in das triste Mitfahrerdasein. Hin und wieder erbrach sich ein Fahrgast ins Taxi. Um genau zu sein, mindestens viermal im Jahr, worauf ich gerne hätte verzichten können. Der absolute Höhepunkt in meinem Leben als Begleiter von Herrn Weber aber war ein Überfall.
Es war schon Abend, als ein Mann mit Hut und hochgeschlagenem Mantelkragen zustieg und plötzlich, noch ehe Herr Weber losfahren konnte, von der Beifahrerseite eine Pistole an seinen Kopf hielt. Mit eisiger Stimme befahl er, er solle sofort losfahren. Das hätte Herr Weber auch ohne Pistole am Kopf getan. Es war ja sein Job. Aber der Mann wollte natürlich noch mehr, als dass Herr Weber ihn schnellstmöglich an den Stadtrand von München fuhr.
Als wir uns den Außenbezirken näherten, befahl er Herrn Weber, anzuhalten. Herr Weber gehorchte und stoppte das Taxi an einem unbeleuchteten Feldweg.
»Geld her!«, rief der Mann. »Los, schnell!«
Herr Weber gab ihm bereitwillig seinen Geldbeutel. Woraufhin der Mann mit der Pistole zwar nicht schoss, Herrn Weber mit der Waffe jedoch einen heftigen Schlag gegen den Kopf versetzte. Ohnmächtig sank er mit dem Oberkörper auf das Lenkrad.
Der Räuber stieg aus. Er ließ die Tür des Taxis offen und verschwand mit dem Geld in der Dunkelheit.
Nach ungefähr einer halben Stunde wurde Herr Weber wach. Er fasste sich an den blutenden Kopf, jammerte und fluchte abwechselnd.
Dann startete er den Wagen und fuhr durch die Stadt zurück nach Hause. Ich machte mir große Vorwürfe, da ich als Schutzpatron auf ganzer Linie versagt hatte.
Herr Weber stellte das Taxi an einem Hochhaus in einem Münchner Stadtviertel ab und schleppte sich nach Hause, wobei er sich den Kopf hielt.
Von da an stand das Taxi zwei Tage lang am selben Fleck. Seitdem habe ich Herrn Weber nicht wiedergesehen.
1977 – 1979, Köln, Hamburg, Kopenhagen, Dänemark
Die Tür ging auf.
Es war am frühen Morgen. Die Sonne hielt sich noch hinter den Hochhäusern versteckt und blinzelte nur ganz verschlafen hinter den Betonsilhouetten hervor. Kaum jemand war um diese Uhrzeit schon unterwegs. Nur wenige Vögel zwitscherten, als könnten sie keinen Schlaf finden. Es war, wie man so schön sagt, in aller Herrgottsfrühe.
Die Tür des Taxis ging trotzdem auf. Aber nicht Herr Weber stieg in den Wagen, wie sonst immer, in Bohnenkaffeegeruch und Zigarettenqualm gehüllt, sondern ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren. Er setzte sich auf den Fahrersitz. Dann wurde die Beifahrertür geöffnet, und ein vielleicht zwei Jahre jüngerer Bursche setzte sich ganz selbstverständlich
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