Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
überhöhten Preisen verkauft.
Asija strich an den Buden vorbei. Wir ließen uns von denGerüchen forttragen. Weit weg, dahin, wo man nicht in jeder Sekunde um sein Leben fürchten musste.
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, am Strand in der Sonne zu liegen. Über mir Palmen und ein hellblauer Himmel. Im Hintergrund das friedliche Rauschen des Meeres. Schön , dachte ich noch, als es plötzlich knallte. Und noch einmal.
Ich öffnete die Augen und sah Apfelsinen und Bananen, Äpfel und Kohlköpfe durch die Luft fliegen. Zuerst wusste ich gar nicht, was los war. Erst als ich Geschrei hörte und Menschen am Boden liegen sah, war mir klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Doch was ich nun sah, wollte ich nicht glauben.
Der ganze Markt war zerstört. Überall waren Blutspuren im Schnee. Es gab Tote und Verletzte, denen eine Bombe, die aus einem Hinterhalt auf den Markt geschleudert worden war, Gliedmaßen abgerissen hatte.
Auch Asija lag blutend auf dem Boden. Zum Glück war es bei ihr nur eine leichte Verletzung am Bein. Dennoch machte ich mir Vorwürfe, dass ich als ihr Schutzengel offenbar versagt hatte.
Asija rappelte sich auf, schleppte sich zwischen den Verwundeten und Toten hindurch und an den eingestürzten Buden vorbei zum Rand des Marktes. Sirenen waren zu hören. Krankenwagen kamen herangejagt. Und Reporter, die das ganze Ausmaß des Grauens mit ihren Kameras festhielten.
Asija saß auf einer Obstkiste und hielt ihr Bein, aus dem noch immer Blut rann. Ich steckte in ihrer Jackentasche und überlegte, was jetzt zu tun war. Noch ehe ich eine brauchbare Idee in Aussicht hatte, sah ich Suzanna mit dem Fotoapparat in der Hand zwischen den Buden umhereilen. Hinter ihrBajro. Ich wollte nach ihnen rufen, brachte aber keinen Ton heraus.
Suzanna blieb plötzlich stehen, sah in unsere Richtung und kam auf uns zu. »Verdammt!«, fluchte sie und brüllte Bajro an: »Na los, pack an!«
Beide schleppten Asija und mich zu ihrem Wagen, wobei Asija immer wieder murmelte: »Ach, ist doch halb so schlimm.«
Bajro fuhr so schnell er konnte zum nächsten Krankenhaus. Die Gänge krachten so entsetzlich, als wollte der Wagen auseinanderbrechen.
Im Krankenhaus wurde Asijas Bein verbunden. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass es weniger schlimm war, als es ausgesehen hatte.
»Glück gehabt«, sagte Suzanna. Auch Bajro schien erleichtert.
Weniger Glück hatten viele andere Marktbesucher. Die blutige Bilanz des Anschlags am 5. Februar 1994 waren über sechzig Tote und mehr als zweihundert zum Teil schwer Verletzte. Aber nicht nur die körperlichen Verletzungen setzten den Menschen zu, die psychischen Folgen waren nicht minder schrecklich. Auch an Asijas Nervenkostüm zerrte der Anschlag.
In der Nacht wachte sie schweißgebadet auf. Im Schlaf redete sie wirres Zeug und schrie ab und an. Mir ging es ähnlich. Auch ich wollte keine Toten mehr sehen, keine Zerfetzten, keine Verletzten, kein Blut. Ich wollte weg von hier, endlich weg, so schnell wie möglich. Ich glaube, Asija wollte das auch. Doch es schien unmöglich zu sein, aus dieser eingeschlossenen Stadt zu entkommen.
* * *
»Es gibt da eine Möglichkeit.« Suzanna sagte es ein paar Tage später in der Eingangshalle des Hotels, während sie einen kleinen Schluck aus der Teetasse nahm.
Asija, noch immer mit einem Verband am Bein, saß neben ihr und kaute auf einem Keks.
»Ja, für dich vielleicht«, entgegnete sie. »Du kannst jederzeit von der UNO ausgeflogen werden.«
»Nein. Ich meine für dich.«
»Quatsch.«
»Doch.«
»Und wie?«
»Eine Hilfsorganisation bringt Kinder und Verletzte mit einem Bus nach Italien.«
»Ich bin nicht mehr verletzt.«
»Nein, aber ein Kind.«
»Davon gibt es hier viele.«
»Asija! Willst du, oder willst du nicht?«
Asija überlegte. Dann nickte sie halbherzig.
»Na also.«
»Was, na also?«
»Wir fahren zusammen.«
»Wann?«
»Nächste Woche geht wieder ein Transport«, sagte Suzanna und fügte hinzu: »Es ist nicht ungefährlich.«
Asija lachte und stopfte sich wieder einen Keks in den Mund. »Gefährlicher als hier kann es kaum sein.«
Mir kam es vor, als redete Suzanna mit Asija nicht wie mit einer Dreizehnjährigen, sondern so, als wäre sie bereits erwachsen. Auch Asija redete, als wäre sie kein Kind mehr. Kein Wunder. Sie war auf sich allein gestellt. Da blieb ihrgar nichts anderes übrig, als möglichst schnell erwachsen zu werden.
* * *
Der Bus war voll mit Kindern, die sämtliche
Weitere Kostenlose Bücher