Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Familienangehörigen verloren hatten und alleine waren, so wie Asija, oder die schnellstens medizinisch behandelt werden mussten, was in Sarajewo kaum noch möglich war. Neben den Kindern fuhren noch ein paar Erwachsene von einer Hilfsorganisation mit. Und Suzanna.
»Wenn wir Glück haben und gut durchkommen, sind wir in zwei Tagen in Italien«, sagte sie und lächelte, obgleich sie angespannt wirkte.
»Und wenn nicht?«, fragte Asija.
Das Lächeln verschwand aus Suzannas Gesicht. »Wird schon alles gut gehen.«
Der Bus wurde von einem Jeep der UNO begleitet. An jeder Straßensperre mussten die Fahrzeuge anhalten. Die Pässe und die Durchfahrtserlaubnis wurden kontrolliert.
Als wieder einer der kriegerisch aussehenden Männer in Uniform den Bus betrat, wurde es ganz ruhig. Jeder zog sich in sich selbst zurück. Der Uniformierte ließ sich von jedem den Pass geben, schaute sich zuerst das Foto an und verglich das entsprechende Gesicht damit. Er schien zufrieden, denn er ging weiter. Asija und Suzanna atmeten auf. Allen im Bus fiel ein Stein vom Herzen, so groß wie ein Felsblock, als der Uniformierte endlich wieder ausgestiegen war, sodass es weitergehen konnte.
Wir fuhren durch zerstörte Dörfer. Zu beiden Seiten der Straße gab es nur noch verkohlte Ruinen. Alles wirkte wie ausgestorben.Die Häuser waren geplündert und zerstört worden. Nur der nackte Stein war noch übrig, weder Fenster, Türen, Geländer oder sonst etwas. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Menschen gewohnt hatten.
Hier wohnt jetzt der Tod , dachte ich und wurde dabei ziemlich nachdenklich.
Auch Suzanna und Asija schauten bedrückt aus dem Fenster, als könnten sie das Ausmaß der Verwüstung nicht fassen. Offenbar fragten sie sich, wo die Leute waren, deren Leben sich noch vor Kurzem hier abgespielt hatte. Ich wollte es erst gar nicht wissen, weil ich das Schlimmste befürchtete.
* * *
Ich war froh, als wir die Dörfer endlich hinter uns gelassen hatten und durch eine Landschaft fuhren, an der nur noch Autowracks, die hie und da am Straßenrand standen, an das Grauen erinnerten. Wenn man die Augen zusammenkniff, sah es sogar schön und friedlich aus. Die Sonne schien und tauchte die Landschaft in liebliches Licht. Als wäre auch Asija von dieser Stimmung erfasst worden, fragte sie: »Meinst du, wir schaffen es?«
Ohne einen Hauch von Zweifel auf kommen zu lassen, entgegnete Suzanna: »Klar!«
»Und dann?«
»Was und dann?«
»Was mache ich da, wo ich hinkomme?«
Suzanna dachte nach, als würde sie sich diese Frage zum ersten Mal stellen.
»Du gehst in die Schule. Du lernst Freunde kennen. Du versuchst ganz normal wie eine Jugendliche zu leben.«
Auf Asijas Gesicht waren hässliche Falten zu sehen.
»Und wo?
»Wie wo?«
»Wo gehe ich zur Schule? Wo lerne ich Freunde kennen? Wo versuche ich ganz normal wie eine Jugendliche zu leben?«
»Bei mir«, entgegnete Suzanna wie selbstverständlich. »In Deutschland.«
Jetzt lächelte Asija. Suzanna nahm sie in den Arm.
»Was hast du denn gedacht?«
»Wie lange?«
»Keine Ahnung. So lange, bis dieser Wahnsinn hier vorbei ist.«
Der Bus wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Wieder stand eine Straßensperre mitten auf der Fahrbahn. Davor lungerten mehrere uniformierte Soldaten herum, die ihre Maschinengewehre wie Babys in den Armen wiegten.
Wieder betrat einer der Uniformierten den Bus. Er kontrollierte die Pässe, blieb schließlich vor Asija stehen, nahm ihren Pass und blätterte darin. Dann schaute er sie feindselig an und sagte: »come on!«
»Aber sie gehört zu uns«, protestierte Suzanna, stand auf und stellte sich zwischen den Soldaten und Asija. Doch der Uniformierte stieß sie brutal zur Seite. Dann packte er Asija an den Haaren und zog sie vom Sitz hoch. Er zerrte sie hinter sich her den schmalen Gang entlang bis nach vorne zum Fahrer. Mich hielt Asija noch immer verkrampft in der Hand, während Suzanna hinter uns herkam und rief: »Nein, nicht, bitte nicht!«
Der Soldat blieb unvermittelt stehen, hob seine Pistole und zielte direkt auf Suzannas Kopf. Dabei rief er so laut er konnte: »Shut up!«
Suzanna verstummte augenblicklich. Langsam, wie in Zeitlupe, schob der Mann Asija und mich aus dem Bus auf die staubige Straße, wo weitere schwer bewaffnete Soldaten hinter der Absperrung standen. Wir wurden neben einen Pritschenwagen in die pralle Sonne geschoben und warteten. Anschließend wurden drei weitere Kinder aus dem Bus
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