Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
schaute jetzt hinauf zum strahlendblauen Himmel. Alle anderen Ordensschwestern taten es ihr gleich.
»Wie kommt der denn …?«
Die Schwestern blickten sich fragend an. Offenbar hatte keine eine Idee.
»Der gehört doch Fred.«
»Nein, Karl.«
»Ist doch egal!«, ging die Oberin dazwischen. »Los, wieder an die Arbeit!«
* * *
Am Abend gaben mich die Schwestern an Karl zurück, der hoch und heilig versicherte, keine Ahnung zu haben, wie ich in den Garten gelangt sein könnte. Da auch die Schwestern keinen blassen Schimmer hatten, wurde Karl ermahnt: »Wenn er noch mal irgendwo herumliegt, ist er weg!«
Ansonsten wurde der Angelegenheit keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt.
An den nächsten zwei Montagen verzichteten Karl und Fred darauf, aufs Dach zu klettern. Drei Wochen später aber saßen sie wieder auf dem Dachfirst.
Von da an ohne mich.
* * *
»Was wird das denn?« Fred zeigte auf ein kompliziert aussehendes Gerät mit vielen Zahnrädern.
Spint überlegte. Bestimmt kommt jetzt wieder »Man wird sehen« , dachte ich. Aber denkste.
»Eine Parkuhr!« Spint grinste.
»Eine Parkuhr?«, fragten Fred und Karl wie aus einem Munde. »Aber Sie haben doch nicht mal ein Auto.«
Spint lachte. »Nicht mal einen Führerschein!«
Dann schwieg er wieder. Als ich schon nicht mehr damit rechnete, dass er überhaupt noch etwas von sich geben würde, legte er plötzlich los und stieß einen solchen Schwall von Worten hervor, dass es Fred, Karl und mir ganz schummrig im Kopf wurde.
»Hier oben schmeißt man ein Geldstück rein, das fällt dann runter und löst einen Mechanismus aus, sodass eine Uhr zu laufen anfängt. Solange die läuft, darf man parken. Wenn die Zeit vorbei ist, kommt ein rotes Schild hier hochgefahren, und die Parkzeit ist zu Ende.«
Karl und Fred staunten. Ich staunte. Spint lächelte verschmitzt.
Spint war nicht nur ein Teufelskerl, ein Tüftler und ein »Spinner«, wie die meisten hinter vorgehaltener Hand tuschelten, er war auch ein Erfinder.
»Und wird die Parkuhr auch mal aufgestellt? An Straßen?«
»Ja, sicher«, sagte Spint. Fred und Karl schienen es nicht glauben zu können.
Herr Spint hieß eigentlich gar nicht Spint. Wie er wirklich hieß, wusste keiner. Hinter vorgehaltener Hand hieß es immer nur »Der Alte spinnt!« Daraus hatte sich sein Spitzname entwickelt: Spint. Der Alte wusste natürlich, was die anderen von ihm dachten und dass sie ihn so nannten, aber es schien ihm egal zu sein. Als Fred ihn einmal fragte, wie er denn wirklich hieße, sagte er wie selbstverständlich: »Spint! Das weiß doch jeder.«
Dann lachte er, als hätte nicht er, sondern die anderen nicht mehr alle Tassen im Schrank.
* * *
Die weißen Hasen trugen Namen der besten deutschen Fußballer und hießen Rahn, Walter eins, Walter zwei und Morlock. In Spints Scheune wurden sie immer größer und fetter. So fett, dass Karl und Fred beschlossen, sie endlich zu verkaufen.
Sie steckten zwei Rammler, Rahn und Walter zwei, in Rucksäcke und fuhren mit dem Zug zum Wochenmarkt nach Oberhausen. Sie saßen in der dritten Klasse auf den Holzbänken. Die Rucksäcke stellten sie sich zwischen die Beine und schauten aus dem Fenster. Sie waren noch nie in Oberhausen gewesen, und auch sonst nirgends. Im Grunde hatten sie Berkum noch nie verlassen. Dementsprechend aufgeregt waren sie. Ihre Nasen klebten an der Scheibe, und sie beobachteten mit großen Augen und halb geöffneten Mündern die vorüberziehende Landschaft. Sie sahen vom Krieg zerstörte Häuser, qualmende Schornsteine und riesige Kohlezechen. Sie fuhren an Ortschaften vorbei, die genauso aussahen wie Berkum, aber viel größer waren. Sie passierten Bahnübergänge, an denen kleine Autos auf drei Rädern standen, die so komisch aussahen, dass sie schmunzeln mussten.
Karl und Fred waren von der Welt draußen so in Bann geschlagen, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Mitreisenden sie neugierig betrachteten. Vor allem die beiden Rucksäcke, die vor den Jungs auf dem Boden lagen, wurden von den Reisenden gemustert. Hin und wieder stupste jemand mit der Stiefelspitze vorsichtig gegen einen Rucksack, sodass der sich noch mehr bewegte.
»Was habt ihr denn dadrin?«, fragte eine rotwangige Frau und zeigte auf die Rucksäcke.
Karl und Fred erschraken. Sie schauten in die stechenden Augen der Frau, auf deren Schoß ein Kind hockte, das sie ebenfalls erwartungsvoll anstarrte. Unschlüssig hoben sie die Schultern.
»Aber ihr müsst doch wissen, was ihr dadrin
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