Der Oligarch
erkundigte er sich, ob es wohl möglich sei, Gabriel zu sehen. »Lieber nicht«, flüsterte Chiara. »Wenn er einen Termin hat, ist er oft ziemlich reizbar.« Lior, der Sohn eines Schriftstellers, verstand das völlig.
Die Leibwächter verbrachten den Rest des Tages damit, sich irgendwie zu beschäftigen. Sie unternahmen kleine Erkundungsvorstöße und wurden zu einem netten Mittagessen mit dem Personal eingeladen, aber die meiste Zeit blieben sie Gefangene ihres Häuschens. Alle paar Stunden steckten sie den Kopf in die Villa, um vielleicht doch noch einen Blick auf die Legende zu erhaschen. Aber sie sahen immer nur die von Hunden bewachte geschlossene Tür. »Er arbeitet fieberhaft«, erklärte Chiara ihnen, als Lior am Spätnachmittag den Mut aufbrachte, um Zutritt zum Atelier zu bitten. »Stört ihr ihn, bekommt er womöglich einen Wutanfall. Und glaubt mir, das ist nichts für empfindsame Gemüter.«
Und so kehrten sie gehorsam auf ihren Vorposten zurück und hockten dort auf der kleinen Veranda, bis die Dämmerung hereinbrach. Und sie starrten bedrückt in das grellweiße Licht und lauschten der leisen Musik. Und sie warteten darauf, dass sich die Legende endlich einmal zeigen würde. Gegen sechs Uhr abends, als sie Gabriel Allon seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen hatten, gelangten sie zu dem Schluss, sie seien reingelegt worden. Aber sie wagten nicht, in sein Atelier einzudringen, um ihren Verdacht bestätigt zu finden. Stattdessen stritten sie sich mehrere Minuten lang darüber, wer Uzi Navot benachrichtigen solle. Am Ende war es Lior, der Ältere und Erfahrenere der beiden, der ihn anrief. Ein guter Junge, der Karriere machen würde. Er hatte nur zur falschen Zeit den falschen Auftrag bekommen.
Es gab weit schlimmere Orte als die Bristol Mews, wo ein in London gestrandeter Überläufer den Rest seiner Tage verbringen konnte. Die Zufahrt zu der kleinen Wohnanlage erfolgte von den Bristol Gardens aus; flankiert wurde sie auf einer Seite von einem Pilates-Studio, das seine Kunden zu stärken und zu ertüchtigen versprach, und auf der anderen von einem kümmerlichen kleinen Restaurant, das sich »D Place« nannte. Der Innenhof der Anlage war ein lang gestrecktes Rechteck, das grau gepflastert und mit roten Klinkersteinen eingefasst war. Im Norden ragte der Turm der Kirche St. Saviour über den Dächern auf; im Osten waren es die Fenster eines großen Terrassenhauses. Die Tür des hübschen Häuschens Nummer acht war wie die der benachbarten Nummer sieben in fröhlichem Gelb gestrichen. Im Erdgeschoss waren die Vorhänge zugezogen. Trotzdem konnte Gabriel erkennen, dass dahinter Licht brannte.
Er war am frühen Nachmittag in London eingetroffen – nach einem Direktflug aus Rom, mit einem falschen italienischen Pass und mit einem Ticket, das ein Freund im Vatikan für ihn gekauft hatte. Nachdem er sich routinemäßig davon überzeugt hatte, dass er nicht beschattet wurde, hatte er am Oxford Circus eine Telefonzelle betreten und eine Nummer gewählt, die er auswendig wusste – eine Nummer, die ein Telefon im Thames House, der MI5-Zentrale, läuten ließ. Wie angewiesen, hatte er nach einer halben Stunde nochmals angerufen und eine Adresse – Nummer acht, Bristol Mews – und eine Uhrzeit – 19 Uhr – erfahren. Inzwischen war es fast 19.30 Uhr. Dass er sich verspätet hatte, war Absicht. Gabriel Allon kam niemals pünktlich zur vereinbarten Zeit.
Gabriel hob den Zeigefinger, um zu klingeln, aber bevor er auf den Knopf drücken konnte, ging die Tür bereits auf. In der Diele stand Graham Seymour, der stellvertretende MI5-Direktor. Er trug einen perfekt sitzenden anthrazitgrauen Maßanzug und eine burgunderrote Krawatte. Mit seinem fein geschnittenen Gesicht, den ebenmäßigen Zügen und dem silbrig angehauchten, dichten blonden Haar hätte er ein Model in einer Anzeige für kostspielige, aber überflüssige Luxusartikel sein können – ein Typ, der teure Armbanduhren trägt, mit teuren Füllern schreibt und den Sommer damit verbringt, auf seiner Privatjacht mit Bikinischönheiten durch die griechische Inselwelt zu segeln.
Alles an Seymour kündete von Gelassenheit und Selbstbewusstsein. Sogar sein Händedruck war eine Waffe, die seinem Gegenüber signalisieren sollte, er habe es nicht mit irgendjemandem zu tun. Er besagte, dass Seymour auf die besseren Schulen gegangen war, den besseren Clubs angehörte und auf dem Tennisplatz noch immer ein ernstzunehmender Gegner war. Dass dies ein Mann
Weitere Kostenlose Bücher