Der Oligarch
Paddington.«
»War er vorsichtig?«
»Das hat er zumindest behauptet.«
»War er auch bei Ihnen zu Hause?«
»Manchmal.«
»Und sonst?«
»Wir haben uns zum Mittagessen in der Stadt getroffen. Oder zum Kaffee.« Sie zeigte auf den Turm des Magdalen-College. »Gegenüber liegt ein hübsches Café, das Queen’s Lane. Dort ist Grigorij immer gern hingegangen.«
Gabriel kannte dieses Café. Das Queen’s Lane war das älteste Kaffeehaus Oxfords. Im Augenblick war er jedoch mit seinen Gedanken woanders. Eben waren zwei Frauen Mitte fünfzig in den Botanischen Garten gekommen. Eine kämpfte im Wind mit einem Lageplan, die andere band sich ihr Kopftuch fester. Gabriel musterte sie einen Augenblick lang, dann setzte er seine Befragung fort.
»Und in London?«
»In einem schrecklichen kleinen Sandwich-Shop in der Nähe der U-Bahn-Station Notting Hill. Ihm hat gefallen, dass er in der Nähe der russischen Botschaft liegt. Es hat ihm ein perverses Vergnügen bereitet, ab und zu nur so aus Spaß an der Botschaft vorbeizugehen.«
Die russische Botschaft, ein von einem hohen Sicherheitszaun umgebener Bau im Zuckerbäckerstil, stand am Nordrand der Kensington Palace Gardens. Gestern Nachmittag war Gabriel selbst daran vorbeigegangen, um sich vor seinem Treff mit Graham Seymour die Zeit zu vertreiben.
»Sind Sie jemals bei ihm gewesen?«
»Nein, aber die Beschreibung seiner Bleibe hat mich ein bisschen neidisch gemacht. Wirklich schade, dass ich kein ehemaliger FSB-Gangster bin. Auch ich hätte mir zu meinem neuen britischen Pass ein hübsches Haus in London gewünscht.«
»Wie lange ist Grigorij hier geblieben, wenn er in Oxford war?«
»Drei bis vier Stunden, gelegentlich etwas länger.«
»Auch mal über Nacht?«
»Zielt Ihre Frage darauf ab, ob wir ein Liebespaar waren?«
»Es ist nur eine Frage.«
»Nein, nie über Nacht.«
»Und waren Sie ein Liebespaar?«
»Nein, wir waren keines. Ich könnte niemals einen Mann lieben, der Lenin so ähnlich sieht.«
»Ist das der einzige Grund?«
»Er war früher beim FSB. Diese Dreckskerle haben bewusst weggesehen, als viele meiner Freunde ermordet wurden. Außerdem hat sich Grigorij nicht für mich interessiert. Er liebt nach wie vor seine Frau.«
»Irina? Nach Grigorijs Darstellung haben die beiden einander fast umgebracht, bevor sie sich endlich haben scheiden lassen.«
»Der zeitliche und räumliche Abstand muss seine Ansichten verändert haben. Er sagt, er sei ein Trottel gewesen. Habe zu viel an seine Arbeit gedacht. Irina hatte einen neuen Freund, wollte aber nicht gleich wieder heiraten. Grigorij hat gehofft, sie loseisen und nach England holen zu können. Irina sollte erleben, was für ein wichtiger Mann er geworden war. Er hat geglaubt, sie würde sich nochmals in ihn verlieben, wenn sie ihn in seinem neuen Element und in seinem eleganten Londoner Haus sähe.«
»Hatte er Kontakt mit ihr?«
Olga nickte.
»Hat sie auf seine Annäherungsversuche reagiert?«
»Anscheinend, aber Grigorij hat nie über Einzelheiten gesprochen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet sie in einem Reisebüro.«
»Richtig, bei Galaxy Travel in der Moskauer Twerskaja ulitsa. Sie bucht Flüge und Hotels für Russen, die Westeuropa bereisen. Galaxy hat eine sehr wohlhabende Klientel. Die ›neuen‹ Russen«, fügte sie hörbar verächtlich hinzu. »Leute, die den Winter am liebsten in Courchevel und den Sommer in Saint-Tropez verbringen.«
Olga holte eine Zigarettenschachtel aus ihrer Manteltasche. »Im Augenblick dürfte das Geschäft bei Galaxy Travel allerdings ziemlich eingebrochen sein. Die weltweite Rezession hat Russland besonders hart getroffen.« Sie versuchte nicht, ihre Schadenfreude darüber zu verbergen. »Aber das war vorauszusehen. Volkswirtschaften, die von Bodenschätzen abhängig sind, reagieren besonders empfindlich auf platzende Spekulationsblasen. Man darf gespannt sein, wie das Regime dieser neuen Herausforderung begegnen wird.«
Sie zog eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich zwischen die Lippen. Als Gabriel sie auf das Rauchverbot in dem Garten aufmerksam machte, zündete sie sie trotzdem an.
»Auch wenn ich jetzt einen britischen Pass habe, bleibe ich eine Russin. Rauchverbotsschilder bedeuten uns nichts.«
»Und ihr wundert euch, dass die Russen mit achtundfünfzig sterben.«
»Nur die Männer. Wir Frauen leben länger.«
Olga atmete eine Rauchwolke aus, die der Wind genau in Gabriels Gesicht trieb. Sie entschuldigte sich und
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