Der Oligarch
Farbe in Saint-Tropez geholt. Vielleicht war er mit einem falschen Pass in Courchevel, um über Weihnachten ein bisschen Ski zu laufen. Oder vielleicht hat er alte Freunde in Afrika besucht.«
»Uns wird berichtet, dass er versucht, sein ehemaliges Netzwerk wieder zu aktivieren.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Haben Sie ähnliche Dinge gehört?«
»Ehrlich gesagt, bemühe ich mich, möglichst wenig an Charkow zu denken. Ich habe einen Blog, der hier in England, aber auch in Moskau viel gelesen wird. Er war schon mehrmals Ziel von Cyberattacken des FSB.« Sie lächelte flüchtig. »Das Wissen, dass ich den Kreml selbst aus meinem Häuschen in Cowley ärgern kann, macht mir unbändigen Spaß.«
»Vielleicht wäre es klüger, wenn Sie …«
»Wenn ich was täte?«, unterbrach sie ihn. »Wenn ich den Mund hielte? Das russische Volk hat viel zu lange geschwiegen. Das Regime hat dieses Schweigen als Rechtfertigung dafür missbraucht, dass es die Demokratie weitgehend abgeschafft und durch eine Art sanften Totalitarismus ersetzt hat. Irgendjemand muss seine Stimme erheben. Und wenn ich dieser Jemand sein muss, ist es in Ordnung. Schließlich ist es nicht das erste Mal für mich.«
Sie waren auf der anderen Seite der Magdalen Bridge angelangt, auf der Seite mit den Türmen, strahlenden Bauten und großen Gedanken. Olga blieb auf der High Street stehen und gab vor, eine Anzeigentafel zu studieren.
»Ich muss gestehen, dass ich nicht allzu überrascht war, als Graham Seymour mich gestern Abend angerufen und mir Ihren Besuch angekündigt hat. Ich vermute, dass seine Sorge Grigorij gilt. Er ist verschwunden, nicht wahr?«
Gabriel nickte.
»Das habe ich befürchtet, nachdem er nicht zurückgerufen hat. In diesem Punkt war er immer sehr zuverlässig.« Sie machte eine Pause, dann fragte sie: »Wie sind Sie von London nach Oxford gekommen?«
»Mit dem Zug vom Bahnhof Paddington.«
»Haben die Engländer Sie beschattet?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Todsicher.«
»Und was ist mit Russen? Sind Sie von Russen beschattet worden?«
»Bisher scheinen sie nicht gemerkt zu haben, dass ich in England bin.«
»Dabei bleibt es bestimmt nicht lange.« Sie sah über die Straße zum Eingang des Botanischen Gartens hinüber. »Reden wir dort drüben weiter? Gärten im Winter haben mir schon immer gefallen.«
17 O XFORD
»Mein Gott«, flüsterte sie. »Wann hört das auf? Wann hört das jemals auf?«
»Ist das möglich, Olga? Ist es denkbar, dass Grigorij aus eigenem Antrieb heimgekehrt sein könnte?«
Sie wischte sich eine Träne ab, dann sah sie sich in dem Garten um. »Waren Sie schon mal hier?«
Eine seltsame Frage, wenn man bedachte, was er ihr gerade erzählt hatte. Aber er kannte Olga gut genug, um zu wissen, dass sie damit einen bestimmten Zweck verfolgte.
»Dies ist mein erster Besuch.«
»Vor hundertfünfzig Jahren ist ein Mathematiker aus dem Christ-Church-College mit einem jungen Mädchen und ihren beiden Schwestern oft hierher gekommen. Der Mathematiker hieß Charles Lutwidge Dodgson. Das Mädchen Alice Liddell. Ihre Besuche dienten als Inspiration für ein Buch, das Dodgson unter dem Pseudonym Lewis Carroll schreiben würde – Alice im Wunderland. Passend, nicht wahr?«
»In welcher Hinsicht?«
»Weil die Theorie der Engländer in Bezug auf Grigorij von Lewis Carroll stammen könnte. Sein Hass auf das Regime und seinen ehemaligen Dienst war abgrundtief. Die Idee, er könnte freiwillig nach Russland zurückgegangen sein, ist absurd.«
Sie saßen in der Mitte des Gartens auf einer Holzbank neben einem Brunnen. Gabriel erzählte Olga nicht, dass er zu demselben Schluss gelangt war – und ihn durch Überwachungsaufnahmen beweisen konnte.
»Sie haben mit ihm an seinem Buch gearbeitet?«
»Richtig.«
»Sie haben sich mit ihm getroffen?«
»Häufiger, als die Engländer vermutlich mitbekommen haben.«
»Wie oft?«
Olga suchte den Himmel nach einer Antwort ab. »Alle paar Wochen.«
»Und wo?«
»Meistens hier in Oxford. Ich war ein paarmal in London, wenn ich einen Tapetenwechsel brauchte.«
»Wie haben Sie diese Treffs vereinbart?«
»Telefonisch.«
»Sie haben am Telefon Klartext geredet?«
»Wir haben einen recht primitiven Code benützt. Grigorij hat gesagt, die russischen Dienste seien im Abhören nicht mehr so gut wie früher, aber noch immer gut genug, um Vorsichtsmaßnahmen erforderlich zu machen.«
»Wie ist Grigorij hergekommen?«
»Genau wie Sie. Mit dem Zug vom Bahnhof
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