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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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beigetragen, sein Gesicht zu verdecken, aber vor allem hatte er sich durch subtile Drehungen und Wendungen getarnt. Trotzdem hatten die Kameras ihr Bestes gegeben: hier ein flüchtiger Blick auf ein energisches Kinn, hier ein halbes Profil, hier ein Mund mit zusammengekniffenen Lippen. Gabriel verließ der Mut, als er die Fotos in dem sicheren Haus in Victoria durchblätterte. Anatolij war ein echter Profi. Und er spielte dieses Spiel mit Charkows Geld.
    Die britischen Nachrichtendienste glichen die Fotos mit den in ihren Datenbanken gespeicherten russischen Geheimdienstoffizieren ab, aber man hegte wenig Hoffnung auf eine Übereinstimmung. Gemeinsam ermittelten sie sechs mögliche Kandidaten, die Gabriel jedoch alle zu später Nachtzeit grundweg ablehnte. Worauf Seymour entschied, nun sei es wohl an der Zeit, die gefürchteten Amerikaner einzubeziehen. Gabriel erbot sich, selbst hinüberzufliegen. In den USA gab es eine Frau, die er gern wiedersehen wollte. Er hatte seit Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie hatte ihm einmal einen Brief geschrieben. Und er hatte ihr ein Bild gemalt.

30 CIA-Z ENTRALE , V IRGINIA
    Nachrichtendienste bezeichnen ihre Spione auf unterschiedliche Weise. Der Dienst nennt sie Beschaffer, und die Abteilung, für die sie arbeiten, heißt Beschaffung. CIA-Spione heißen Sachbearbeiter, ihr Arbeitgeber ist der National Clandestine Service. Adrian Carters Amtszeit als NCS-Chef begann, als der NCS noch Operationsabteilung hieß. Carter, der als einer der fähigsten geheimen Krieger der Agency galt, hinterließ seine Fingerabdrücke auf jedem US-Geheimunternehmen der letzten Jahrzehnte. Er fälschte hier und da Wahlen, stürzte da und dort eine demokratisch gewählte Regierung und ignorierte mehr Hinrichtungen und Morde, als er sich selbst eingestehen mochte. »In einem einzigen Jahr habe ich in Polen Gott einen Dienst erwiesen und in El Salvador des Teufels Regime unterstützt«, vertraute er Gabriel einmal in einem Anfall von Freimut an. »Und als Zugabe habe ich die muslimischen, heiligen Krieger in Afghanistan bewaffnet, obwohl ich wusste, dass aus ihren Waffen eines Tages Tod und Verderben auf mich herabregnen würden.«
    Seit dem Morgen des 11. September 2001 konzentrierte sich Adrian Carter allerdings hauptsächlich auf eines: einen weiteren Anschlag des globalen islamischen Extremismus auf amerikanischem Boden zu verhindern. Dabei wandte er Taktiken und Methoden an, die selbst ein abgebrühter geheimer Krieger wie er manchmal anstößig fand. Die Geheimgefängnisse, die Verschleppungen, die gewaltsamen Verhöre … das alles wurde bekannt und schadete Carter, dessen Kopf wohlmeinende Journalisten und Politiker seit Jahren forderten, sehr. Carter hätte zu den größten Anwärtern auf das Amt des CIA-Direktors gehören sollen. Stattdessen lebte er in der ständigen Angst, eines Tages wegen seiner Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus angeklagt zu werden. Carter hatte die USA vor ihren Feinden beschützt. Und dafür würde er ewig im Fegefeuer schmoren.
    Am folgenden Nachmittag erwartete er Gabriel in einem Konferenzraum im sechsten Stock der CIA-Zentrale, der Walhalla des weit verzweigten und oft chaotischen amerikanischen Geheimdienst-Establishments. Carter, äußerlich das absolute Gegenteil von Graham Seymour, hatte zerzaustes schütteres Haar und einen buschigen Schnauzer, der – wie die Diskomusik, der Schnellkochtopf und der Atomwaffensperrvertrag – längst aus der Mode gekommen war. In seiner grauen Flanellhose und der burgunderroten Strickjacke wirkte er wie ein Professor an einem kleinen College, der für hohe Ideale eintritt und seinem Dekan ein ständiger Dorn im Auge ist. Er betrachtete Gabriel über seine Lesebrille hinweg, als sei er gelinde überrascht, ihn zu sehen, und streckte ihm die Hand hin. Sie war trocken und marmorkühl.
    Noch aus London hatte Gabriel am Vortag durch ein verschlüsseltes Kabelgramm, das die CIA-Station in der US-Botschaft übermittelt hatte, Verbindung mit Carter aufgenommen. In seiner Nachricht hatte er Carter nur in ganz groben Zügen informiert. Jetzt ergänzte Gabriel die weggelassenen Details. Nach dieser Unterrichtung begutachtete Carter das Beweismaterial, beginnend bei dem Brief, den Grigorij in Oxford hinterlegt hatte, bis zu den Überwachungsfotos vom Flughafen Heathrow, die den nur als Anatolij bekannten Mann zeigten.
    »Wenn ich ganz ehrlich sein soll«, sagte Carter, »haben wir nie viel von der Story gehalten,

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