Der Oligarch
aufheulen. »Wir haben noch ein Stück zu fahren. Bleiben Sie dicht hinter mir. Sonst riskieren Sie, von den Scharfschützen erschossen zu werden.«
Fielding fuhr in flottem Tempo über die Lichtung davon. Am Rand der Lichtung hatte Gabriel zu ihm aufgeschlossen. Nach einer halben Meile führte die Straße einen steilen Hügel hinauf. Obwohl sie an diesem Morgen geräumt und gestreut worden war, war sie spiegelglatt gefroren. Fielding bewältigte die Steigung problemlos, aber die Räder von Gabriels Ford drehten durch. Er schaltete in einen niedrigeren Gang um und versuchte es erneut. So fanden die Reifen mehr Halt, und der große Geländewagen arbeitete sich langsam den Hügel hinauf. In den wenigen Sekunden, die Gabriel dadurch verlor, kam Fielding außer Sicht. Dann entdeckte er ihn vor sich an einer Straßengabel wartend. Sie hielten sich links und fuhren weitere zwei Meilen, bis sie eine Lichtung auf dem höchsten Punkt der Besitzung erreichten.
In ihrer Mitte stand eine große, im herkömmlichen Adirondack-Stil erbaute Lodge, deren Giebelseite und geräumige Veranda nach Südosten ausgerichtet waren – zur schwachen Mittagssonne und den zugefrorenen Seen von St. Regis hin. Unmittelbar am Waldrand stand eine zweite Lodge, kleiner als das Haupthaus, aber trotzdem noch imposant. Zwischen den beiden Häusern lag eine Wiese, auf der zwei dick eingemummte Kinder unter Aufsicht einer hochgewachsenen, schwarzhaarigen Frau, die einen Lammfellmantel trug, einen Schneemann aus Pulverschnee zu bauen versuchten. Als die Frau die Fahrzeuge kommen hörte, fuhr sie instinktiv wachsam herum, hob dann aber fast überschwänglich die Hand.
Gabriel hielt hinter Fielding und stellte den Motor ab. Als er ausstieg, kam die Frau bereits unbeholfen durch den kniehohen Schnee auf ihn zugestapft. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn umständlich auf beide Wangen. »Willkommen an dem einzigen Ort, an dem Charkow mich niemals finden wird«, sagte Elena Charkowa. »Mein Gott, Gabriel, ich kann nicht glauben, dass Sie wirklich hier sind!«
33 I M N ORDEN DES S TAATS N EW Y ORK
Zu Mittag aßen sie in dem großen rustikalen Speisezimmer unter einem traditionellen Adirondack-Leuchter aus Hirschgeweihen. Elena hatte das große Fenster mit Blick über ferne Seen im Rücken, Anna saß links, Nikolai rechts neben ihr. Obwohl Gabriel die Charkow-Zwillinge voriges Jahr in Südfrankreich gewissermaßen legal entführt hatte, hatte er sie noch nie in Person gesehen. Wie vor ihm Sarah Bancroft war Gabriel von ihrem Aussehen völlig verblüfft. Anna, schlank und dunkelhaarig und mit natürlicher Eleganz ausgestattet, war eine kleinere Version ihrer Mutter. Nikolai, blond und stämmig, mit breiter Stirn und starken Augenwülsten, sah seinem berüchtigten Vater täuschend ähnlich. Tatsächlich hatte Gabriel während des sonst so harmonischen Mahls das unbehagliche Gefühl, sein unversöhnlicher Feind Iwan Charkow verfolge jede seiner Bewegungen von der anderen Seite des Tisches aus mit Argusaugen.
Auch ihre Stimmen erstaunten ihn. Sie sprachen fließend, fast akzentfrei Englisch. Andererseits war das nicht verwunderlich. In vielerlei Hinsicht waren Charkows Kinder gar keine richtigen Russen. Sie hatten den größten Teil ihres Lebens in einer Villa in Knightsbridge gewohnt und eine exklusive Londoner Privatschule besucht. Im Winter hatten sie die Skiferien in Courchevel verbracht, im Sommer waren sie zur Villa Soleil, Charkows Villa mit Meerblick in Saint-Tropez, gereist. Nach Russland waren sie dagegen jedes Jahr nur für ein paar Wochen gekommen, damit der Kontakt zur Heimat nicht ganz abriss. Anna, die Redseligere von beiden, sprach von ihrem Heimatland wie von etwas, das sie nur aus Büchern kannte. Nikolai dagegen redete auffällig wenig. Er starrte Gabriel nur mehrmals finster an, als hege er den Verdacht, dieser unerwartete Essensgast sei irgendwie dafür verantwortlich, dass er jetzt statt in West London und Südfrankreich auf einem Hügel in den Adirondacks lebte.
Nach dem Essen küssten die Kinder ihre Mutter auf die Wange und trugen artig das Geschirr in die Küche hinaus. »Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich an ein Leben ohne Personal gewöhnt hatten«, sagte Elena, als sie gegangen waren. »Ich denke, es ist besser, wenn sie eine Zeit lang wie normale Kinder leben.« Sie lächelte über die Absurdität ihrer Worte. »Na ja, fast wie normale Kinder.«
»Wie haben sie die Umstellung bewältigt?«
»So gut, wie man
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