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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Morgengrauen ins Tal hinabraste. In Genf machten die beiden nur lange genug Halt, um Sarah Bancroft aus dem Hotel Bristol abzuholen, bevor sie nach Zürich weiterfuhren.

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    Der Raum im Keller der kleinen Datscha war nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Weit oben in einer Ecke befand sich ein winziges Fenster, dessen Scheibe mit jahrzehntealtem Schmutz bedeckt war, davor lag eine Schneewehe. Jeden Tag ein Mal, wenn die Sonne genau richtig stand, verfärbte sich der Schnee rötlich und sein Widerschein füllte ihr Kellerverlies. Sie vermuteten, dies sei der Sonnenaufgang, waren sich aber nicht ganz sicher. Iwan Charkow hatte ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Zeit geraubt.
    Chiara genoss jede Sekunde dieses Lichts, obwohl es Grigorijs entstelltes Gesicht umso deutlicher zeigte. Platzwunden, Prellungen, starke Schwellungen – es gab Augenblicke, in denen er kaum mehr menschlich aussah. Sie versorgte ihn, so gut sie konnte, und brachte ein Mal sogar den Mut auf, Charkows Wachleute um Verbandmaterial und ein Schmerzmittel zu bitten. Die Wachen fanden ihre Bitte belustigend. Sie hatten ziemlich viel Mühe aufgewandt, um Grigorij in diesen Zustand zu versetzen, und dachten nicht daran, der neuen Gefangenen die Möglichkeit zu geben, ihr Werk mit Mullbinden und Salben ungeschehen zu machen.
    Ihre Hände und Füße waren ständig gefesselt. Sie bekamen weder Kissen noch Decken, und der Raum blieb auch in den eisigen Winternächten unbeheizt. Zwei Mal täglich bekamen sie etwas Essen – grobes Brot, ein paar Wurstscheiben, dünnen Tee in Pappbechern –, zwei Mal täglich wurden sie auf einen schwach beleuchteten, übel riechenden Abort geführt. Die Nächte verbrachten sie Seite an Seite auf dem kalten Betonboden liegend. In der ersten Nacht träumte Chiara, sie suche in verschneiten, endlosen Birkenwäldern nach einem Kind. Als sie aus diesem Traum aufschrak, stellte sie fest, dass Grigorij sich liebevoll bemühte, sie zu trösten. In der Nacht darauf wachte sie von einem warmen Strom auf, der sich zwischen ihren Beinen ergoss. Diesmal war Chiara untröstlich. Sie hatte soeben Gabriels Kind verloren.
    Aus Angst vor Charkows Mikrofonen sprachen sie über nichts Wichtiges. Erst während der kurzen Helligkeit des dritten Tages ihrer gemeinsamen Gefangenschaft fragte Grigorij nach den Umständen von Chiaras Entführung. Sie überlegte kurz, bevor sie antwortete, und erzählte dann eine sorgfältig abgewogene Version der Wahrheit. Sie berichtete, sie sei in Italien auf offener Straße entführt worden, wobei ihre Leibwächter, zwei gute junge Männer mit glänzender Zukunft, erschossen worden seien. Sie verschwieg jedoch, dass sie drei Tage zuvor am Corner See an der Befragung von Grigorijs Exfrau Irina teilgenommen hatte. Oder dass sie wusste, mit welchem Trick es Charkows Agenten gelungen war, Irina bei Grigorijs Entführung als Lockvogel zu benutzen. Oder dass Gabriels Team Irina so ins Herz geschlossen hatte, dass alle traurig gewesen waren, als sie nach der Befragung nach Russland zurückkehren musste. Das alles hätte Chiara gern erzählt, aber das konnte sie nicht, weil Charkow sie belauschte.
    Als dann Grigorij sein Martyrium schildern sollte, verzichtete er auf Auslassungen. Seine Story war mit der identisch, die Chiara am Comer See gehört hatte – nur aus einem anderen Blickwinkel erzählt. Er war auf dem Weg zu einer Partie Schach gegen einen Mann namens Simon Finch gewesen, einem überzeugten Marxisten, der davon träumte, im Westen eine Schreckensherrschaft nach sowjetischem Muster einzuführen. Bei einem kurzen Halt am Waterside Café bemerkte er, dass er von einem Mann und einer Frau beschattet wurde. Weil er die beiden für MI5-Agenten hielt, glaubte er, unbesorgt weitergehen zu können. Kurze Zeit später änderte er seine Meinung jedoch, als er mitbekam, dass ein weiterer Mann, ein Russe, ihn auf der Harrow Road beschattete. Dann sah er eine Frau auf sich zukommen – eine Frau, die trotz des leichten Regens weder Hut noch Schirm trug – und erkannte, dass er sie vor einigen Minuten schon einmal gesehen hatte. Er fürchtete, ermordet zu werden, und überlegte kurz, ob er eine verzweifelte Flucht über die Harrow Road riskieren sollte. Dann hielt dicht vor ihm eine Limousine, ein schwarzer Mercedes. Die hintere Tür wurde geöffnet.
    »Ich habe den Mann erkannt, der meiner Exfrau eine Pistole an den Kopf gedrückt hielt. Er heißt Petrow Wer diesem Mann begegnet, überlebt nur

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