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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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nahm. Meine eigenen Kinder drückte ich dabei fest an mich, als müsste ich verhindern, dass man sie mir auch wegnahm.«
    Elizabeth wunderte sich, dass ihre Mutter davon nichts wusste. In den Tagen darauf beäugte sie Anna und stellte fest, dass sie Mims nicht im Geringsten ähnlich sah. Annas Hautfarbe erinnerte an die Rinde der Olivenbäume. Ihre Haare waren dunkel und so lockig, dass sie nicht zu bändigen waren. Sie hatte viel von ihrem Vater geerbt, doch im Unterschied zu seinen typisch irischen, hohen, rundlichen Wangen waren Annas Wangen straff von den Augen zum Kinn gespannt, und ihr großer Mund verlieh ihrem Gesicht etwas Bulldoggenartiges, wenn sie wütend war. Ihre Augen glichen der Form nach denen ihres Vaters, waren aber gelbbraun statt blau.
    Elizabeth wusste, dass sie ihrer Mutter sehr ähnlich sah. Zwar hatte sie einen helleren Teint, und ihr gewelltes Haar war weniger widerspenstig, doch wenn sie nebeneinander standen, sah die eine aus wie die andere – besonders jetzt, da sie weibliche Rundungen bekam.
    Je schlechter es Mims ging, desto mehr vertraute sie ihrer Enkelin an. Elizabeth wusste nicht, was sie mit dem Geheimnis anfangen sollte. Sie fürchtete sich vor ihrem Großvater, den sie immer als strengen Mann empfunden hatte. Nun, da sie wusste, dass er Anna ihrer leiblichen Mutter weggenommen hatte, redete sie nicht mehr mit ihm. Doch er schien gar nicht zu bemerken, dass sie ihm fortan lediglich mit einem Nicken antwortete, statt mit »Jawohl«. Eines Nachmittags, sie half ihrer Mutter gerade beim Keksebacken, erkundigte sie sich bei Anna über ihre Kindheit in Australien.
    Anna arbeitete flink und geschäftig in der Küche. »Woran ich mich am besten erinnere, ist, dass ich wegwollte. Wenn du etwas über Kängurus und Wallabys wissen möchtest, solltest du deinen Onkel Wealthy fragen.«
    Elizabeth blieb hartnäckig, fragte ihre Mutter nach ihrer frühesten Erinnerung an Mims. Anna schürzte die Lippen und klappte einen Keks auf die Hälfte zusammen. »Sie hat nicht geweint. Ich erinnere mich, wie sie Daddy an dem Tag, an dem Violet in dem Schulfeuer umkam, geschlagen hat, als er weinte. Mims selbst aber weinte nie. Sie sagte, Gott habe ihnen beiden gegeben, was sie verdient hätten, und damit müssten sie fertigwerden.«
    »Aber Mims weint doch andauernd«, sagte Elizabeth erschrocken, da sie glaubte, einen Anflug von Genugtuung in den Worten ihrer Mutter gehört zu haben.
    »Sie ist alt geworden«, antwortete ihre Mutter und winkte ab. »Die Menschen beginnen zu bereuen, wenn sich ihr Leben dem Ende zuneigt. Aber wenn man jung ist, kann man seine Zeit nicht damit vergeuden zu weinen.«
    In diesem Moment war Elizabeths Vater in die Küche gekommen. »Das sind der Schotte und der Ire in dir«, sagte er und packte seine Frau an der Hüfte. Anna versteifte sich und lehnte sich kurz mit der Schulter gegen ihn. »Du rätst meinem kleinen Mädchen nicht etwa gerade, zäher zu werden, oder? Spar dir das für die Jungs auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einer deiner Söhne heute Morgen wegen eines Splitters geheult hat.«
    »Oh, sei still«, sagte Anna und warf eine Handvoll Mehl nach ihm.
    Mims starb im Juli. Auf ihrer Beerdigung kam Elizabeth der Gedanke, mit Onkel Wealthy über ihr Geheimnis zu sprechen. Als sie mit dem Schiff herüberkamen, war er alt genug gewesen, um sich an den plötzlichen Familienzuwachs zu erinnern. Wealthy war ein Spekulant. »Ich versuche, meinem Namen alle Ehre zu machen«, sagte er stets, wenn ihn jemand nach seinem aktuellen Projekt fragte. Er kaufte und verkaufte Land, wobei er zunächst versuchte, den Verlauf der Eisenbahnlinien vorauszusagen, und anschließend nach Texas weiterzog, wo er auf der Suche nach einer Ölquelle, die ergiebig genug war, um sich zur Ruhe zu setzen, Pachtgrundstücke kaufte und verkaufte.
    Zur Beerdigung erschien er mit dem größten Hut, den Elizabeth je gesehen hatte. Er trug einen Bart, und seine roten Haare wurden langsam weiß. Er unterhielt die Kinder in Kidron, indem er draußen an der Hauswand Schattenspiele vorführte.
    Elizabeth wusste nicht, wie man ein ernstes Gespräch mit einem Erwachsenen begann. Sie glaubte, sie würde einen Vertrauensbruch begehen, wenn sie ihn direkt darauf ansprach, also redete sie um den heißen Brei herum, so wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte. Erzähl mir von Australien. Was ist deine früheste Erinnerung an meine Mutter? Was habt ihr gemacht, als ihr auf dem Schiff wart?
    Am zweiten Tag seines

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