Der Olivenhain
Elizabeth sah Doktor Hashmi an, der sich eingehend mit seinem Stift beschäftigte. »Können wir das vor ihnen geheim halten?«
Er räusperte sich. »Meiner Erfahrung nach …« Er hielt inne und griff dann nach ihrer Hand. »Ms. Bets. Das passiert weit öfter, als Sie glauben. Ich kann Ihr Geheimnis für mich behalten, und solange sich keiner Ihrer Söhne oder deren Kinder mit Genetik auskennt, wird man Ihnen nicht auf die Schliche kommen. Es wundert mich allerdings, dass bis jetzt noch niemand dahintergekommen ist.«
Sie unterbrach ihn. »Dann behalten Sie es also für sich?«
Er nickte. »Ginge es allerdings um mich, so würde ich über den Bunyip Bescheid wissen wollen.«
»Würden Sie sie denn nicht hassen?«
»Wen?«
»Ihre Mutter.«
Er zuckte mit den Schultern. »Hass ist etwas, das man überwinden kann.«
»Mir bleibt nicht mehr genug Zeit, um zu erleben, dass sie ihren Hass überwinden.«
»Ihnen bleibt noch mehr Zeit als mir.« Doktor Hashmi nahm sie in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Sagen Sie es ihnen.«
Sie öffnete die Autotür und stieg aus. Das Gras auf dem Feld war trocken, und als sie losging, nahmen Heuschrecken vor ihren Füßen Reißaus. »Nur einen kleinen Moment«, rief sie Doktor Hashmi zu. Er winkte ihr zu, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Sie wünschte, sie könnte zu Frank gehen. Sie wünschte, er hätte einen lichten Moment, in dem sie offen und ehrlich mit ihm darüber sprechen konnte, was sie getan hatte, worum sie ihn gebeten hatte. Sie dachte an ihre Söhne und wusste, dass sie ihr verzeihen würden, wenn sie nur den Mut aufbrachte, es ihnen zu sagen.
Die Fahrt zurück nach Hill House war viel zu kurz. Sie sah Callie auf der Vordertreppe sitzen, wo sie mit ihrer Schuhspitze Buchstaben in den Kies schrieb. Elizabeth wartete, bis Doktor Hashmi ausgestiegen war. Er beugte sich zu Callie hinunter und reichte ihr eine Hand zum Aufstehen. Als er Callie auf die Füße zog, stolperte sie in seine Arme, und sie umarmten sich einen kurzen Moment und flüsterten einander etwas zu. Ihre Tochter würde ihr nicht verzeihen. Treue stand für Callie an oberster Stelle, und ganz gleich, warum Elizabeth so gehandelt hatte, Callie würde ihr die Untreue zum Vorwurf machen.
»Geht es dir besser?«, fragte Callie und streckte ihr eine Hand entgegen. Elizabeth hatte erwartet, dass sie ihr den Streit im Olivenhain nachtrug, doch Doktor Hashmis Gegenwart schien auch die Spannung zwischen ihnen zu lösen. Seit ihrer Kindheit war ihre Tochter nicht mehr so entspannt gewesen. Zum tausendsten Mal fragte sich Elizabeth, wie ihre Tochter heute wohl wäre, wenn dieser verdammte Pilot sein Flugzeug nicht in diesen Berg gesteuert hätte, um Selbstmord zu begehen. Sie umarmte sie und atmete den Duft ihrer Haare nach Lavendel und der Erde um Hill House ein.
»Puh, nicht so fest«, sagte Callie und machte sich los, doch für einen kurzen Moment hatte Elizabeth spüren können, wie ihre Tochter die Umarmung erwiderte.
Sie war Callie zeitlebens die falsche Mutter gewesen. Schon vor dem Absturz hatte sie sich nicht so um sie gekümmert, wie sie es gebraucht hätte. Sie hatte stets das Gefühl gehabt, es Frank schuldig zu sein, dass er sie erziehen durfte, wie er es für richtig hielt. Sie wussten beide, dass die anderen nicht von ihm waren und dass er das spürte. Ihr Ehemann war abergläubisch und hatte Callie alle Familientraditionen beigebracht.
Frank hatte immer großen Respekt vor Elizabeths Familie gehabt. Er sah mit an, wie ihre Olivenhaine gediehen, während die seiner eigenen Familie zur selben Zeit verkümmerten. Er sah zu, wie Anna scheinbar aufhörte zu altern, während seine eigene Mutter den Verstand verlor. Elizabeths Schwiegermutter starb nicht wegen ihres Alters, sondern weil sie mitten in der Nacht umherirrte und in einen Bewässerungsgraben fiel. Die alte Frau erholte sich nie von der Lungenentzündung, die sie sich in dieser Nacht zugezogen hatte.
Callie war so sehr Franks Tochter, wie die Jungs Elizabeths Söhne waren. Ohne väterliche Prägung wurden sie so, wie Elizabeth es wollte. Die Sommer über setzte sie auf die Unterstützung ihrer Brüder – schickte die Jungs zum Mitarbeiten auf Phils Rinderfarm im Osten Oregons oder auf Joeys Fischerboot, das in einem kleinen Hafen im Norden Kaliforniens lag.
»Du schaust so komisch«, sagte Callie.
»Ich habe nur gerade an deine Brüder gedacht.«
»Sie sind momentan einfach in einer anderen Lebensphase. Erinnerst du dich
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