Der Olivenhain
Haus verbracht, und im Unterschied zu den anderen hatte sie in all den Jahren niemals den Wunsch verspürt, es zu verlassen. Sie beobachtete, wie die trockene Sommerbrise durch den Olivenhain wehte und die mit einem weißlichen Film überzogenen Blätter in Bewegung versetzte. Ihre Hände zitterten noch von dem Streit mit Callie. Das Mädchen musste Elizabeths Geheimnis kennen. Bestimmt hatte ihr Freund ihr verraten, was sie ihm anvertraut hatte. Sie hätte Doktor Hashmi niemals vertrauen dürfen!
Als sie bei Hill House angekommen war, stützte sie sich auf das Verandageländer. Drinnen im Haus spielte Anna ein Klavierkonzert von Mozart, und Erin summte dazu. Jedes Mal, wenn die Musik anschwoll, stieß das Baby einen aufgeregten Gluckser aus, und der Hund antwortete darauf mit einem Bellen.
Niemand ahnte, wie viele Geheimnisse Elizabeth mit sich herumtrug. Nicht nur ihre eigenen, auch die von anderen. Als Kind waren es die kleinen Geheimnisse ihrer Geschwister oder Spielkameraden gewesen, Schwärmereien, Bagatellen, doch ihr erstes großes Geheimnis war ihr in jenem Sommer anvertraut worden, in dem sie vierzehn geworden war. Damals erzählte ihr Grandma Mims die Wahrheit über Anna. Mims machte sie zu einer Geheimnisträgerin, weil sie vertrauenswürdig aussah, wie sie sagte – mit ihren runden, symmetrischen Augen und einer Stimme so zart und so leise, dass mancher ihrer Mitmenschen sie gar nicht hören konnte.
Sie ließ ihre Hand über das Geländer gleiten und zog sich dabei einen Holzsplitter in die Handfläche. Dann setzte sie sich in einen Schaukelstuhl, pulte mit den Fingernägeln daran herum und dachte an ihre Großmutter.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, seit die alte Frau gestorben war, trotzdem konnte Elizabeth hier und jetzt ihre Gegenwart spüren, hatte sie auch vorhin im Olivenhain während ihres Streits mit Callie gespürt. Sie wusste, dass Doktor Hashmi Enthüllungen und somit auch Veränderungen mitbringen würde. Elizabeth war für nichts davon bereit. Sie grub ihre Nägel so tief in den Handballen, dass er anfing zu bluten.
Als damals feststand, dass Mims sterben würde, bat ihr Großvater Elizabeth, die Arbeit auf der Olivenplantage ruhen zu lassen und sich um ihre Großmutter zu kümmern. Es war der Sommer, als er das »Baby« aus ihrem Kosenamen strich. Sie Bets zu nennen, das erkannte sie jetzt, war sein Versuch gewesen, das Offenkundige zu leugnen – dass sie erwachsen wurde. Im Juli hatte man sie mit nach Red Bluff ins Kaufhaus genommen, um sie mit der Kleidung für eine Frau auszustatten, wie Anna es nannte.
Mims war eine korpulente Frau gewesen, doch in diesem Sommer verlor sie fünfzig Pfund, und ihre Haut hing an ihr herunter wie Laken von einer Wäscheleine. Sie kam Bets damals so alt vor – so runzelig und grau wie Anna heute, obwohl Mims zu jenem Zeitpunkt nicht viel älter als sechzig gewesen sein konnte. Wenn Elizabeth Mims Arme hob, um sie zu waschen, musste sie mehrere Hautfalten beiseite schieben, um alle Stellen zu erreichen. Es erinnerte sie daran, wie Hühner nach dem Rupfen trocken getupft wurden. In diesen Momenten vermieden beide es immer, sich anzusehen.
Doch es gab auch Augenblicke, in denen eine geradezu verschwörerische Stimmung zwischen ihnen aufkam, zum Beispiel, wenn Elizabeth Mims aus dem Buch Tobit oder Esther vorlas. Mims war katholisch erzogen worden, wechselte aber später ihrem Ehemann zuliebe die Konfession und wurde evangelisch. Am ersten Abend, den Elizabeth bei ihr verbrachte, bat sie sie, nach nebenan zu den Lindseys zu gehen und sich die Bibel zu leihen. »Ich brauche etwas von dem Glauben aus meinen Mädchenjahren«, hatte sie Elizabeth erklärt.
Eines Abends, Mims hatte gerade die Augen geschlossen und Elizabeth war aufgestanden, um in ihr eigenes Zimmer zu gehen, begann ihre Großmutter plötzlich zu wimmern. Elizabeth versuchte, sie zu beruhigen, doch sie wurde immer verzweifelter, und schließlich sagte sie: »Deine Mutter ist nicht meine Tochter.«
Dann brach die ganze Geschichte aus ihr heraus. Sie erzählte von Australien und davon, wie ihr Mann Percy ihr an dem Abend, an dem sie das Land verlassen mussten, einen Seitensprung mit der Frau gestand, die bei ihnen als Wäscherin ausgeholfen hatte. Das Kind dieser Busch-Frau, das vierjährige Mädchen mit den Sommersprossen, war seine Tochter. »Er weigerte sich, Brisbane ohne sie zu verlassen«, sagte Mims. »Ich stand dabei und musste mit ansehen, wie er Anna ihrer Mutter aus den Armen
Weitere Kostenlose Bücher