Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
Vom Netzwerk:
wenn Sie abbiegen müssen«, sagte Elizabeth. Ihre Hand fing wieder an zu bluten; sie wischte sie sich an ihrer grauen Hose ab. Sie wies ihn an, unter einer der Eichen zu parken, die auf dem Feld standen. »Früher war das hier einmal ein Obstgarten, bis irgendein Dummkopf auf die Idee kam, dass es billiger wäre, die Äste jedes Jahr abzuhacken, statt sie abzuernten. Stutzen nannte er das«, erklärte sie.
    »Hat nicht funktioniert?«, fragte Doktor Hashmi.
    »Es hat ihn ruiniert. Die Bäume haben sich nicht so schnell regeneriert, wie er dachte.«
    Sie ließ ihr Fenster herunter und rutschte mit dem Sitz so weit zurück, dass sie sich ausstrecken konnte. In diesen Kleinwagen hatte sie immer das Gefühl, in eine Schachtel gestopft worden zu sein. Doktor Hashmi nahm mehrere Blätter aus einer Mappe, die auf dem Rücksitz lag, und sortierte sie.
    »Ich vermute, es geht um die Blutanalysen«, begann er.
    Sie unterbrach ihn. »Haben Sie schon einmal von einem Bunyip gehört?«
    Er schüttelte den Kopf. Elizabeth streckte ihre Beine aus. »Als wir klein waren, hat Mum uns immer vor einem Ungetüm mit der Haut eines Seehundes und dem Maul eines Krokodils gewarnt. Sie sagte, es verstecke sich im Wasser. Wir sind damals, ich hatte noch keine Brüste, gern hierhergekommen, um in den Wasserlöchern zu baden. Das Wasser war saukalt.« Sie schaute aus dem Fenster und deutete an zwei Eichen und mehreren Stümpfen vorbei auf eine kleine Lichtung. »Dort hinten. Frühlingsteiche nannten wir sie damals.«
    »Ja, die kenne ich. Sie entstehen im Frühling, wenn der Schnee schmilzt und die Wasserläufe über die Ufer treten«, sagte Doktor Hashmi. Er schien Elizabeth nicht drängen zu wollen, forderte sie aber mit einem leichten Nicken auf fortzufahren.
    »Ich selbst bin nie ins Wasser gegangen. Ich bin mit meinen Brüdern hierhergekommen und habe ihnen zugeschaut, wie sie sich bis auf die Unterwäsche auszogen und kreischend hineinsprangen. Aber ich konnte nicht, denn ich wusste, dass der Bunyip nur darauf wartete, dass ich meinen Zeh ins Wasser streckte.«
    »Bestimmt gibt es diesen Bunyip gar nicht«, sagte der Doktor leise.
    »Nein. Natürlich nicht. Er ist ein sagenhaftes Ungeheuer, irgendein wildes Tier, eine Überlieferung aus der Kindheit meiner Mutter. Doch je älter man wird, desto mehr wünscht man sich, es gäbe Bunyips. Denn was mich heute viel mehr verletzen kann, sind die Ungeheuer, die ich selbst erschaffen habe.«
    »So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte er.
    Elizabeth wollte es hinter sich bringen. Sie wandte sich ihm zu und sagte den Satz, den sie seit dem Tag geübt hatte, als er gekommen war, um ihr Blut abzunehmen. »Sie sind mir auf die Schliche gekommen.« Die Worte klangen weit weniger unbeschwert und witzig, als sie beabsichtigt hatte. Stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen, und die Worte fielen schwer wie Steine in einen Tümpel.
    Er reichte ihr ein Blatt und sie sah, dass Callies Name oben aufgedruckt stand. »Im Rahmen meiner Forschung hat das Labor die DNA Ihrer Familie nicht nur im Hinblick auf Langlebigkeit untersucht. Ziel war es auch, sie nach der Ähnlichkeit Ihrer Profile zu klassifizieren. Ich wollte sehen, wie sich eine direkte Verwandtschaft mit Anna auf die Ergebnisse auswirkt. Die Tests verrieten uns aber auch etwas über die Vaterschaft. Es gibt insgesamt fünfzehn DNA-Marker, die wir zur Vaterschaftsbestimmung verwenden.« Er deutete auf Ziffern auf Callies Blatt und las Sequenzen vor, die er Allele nannte, und redete über den Genlocus. Elizabeth hörte ihm gar nicht zu.
    Sie wusste, was er ihr sagen wollte. Callie war ihre und Franks Tochter. Ganze vier Jahre hatte es gedauert, bis sie schwanger geworden war. Vier Jahre, in denen Elizabeth im Bett gelegen und gebetet hatte, ihr Mann möge sie endlich anfassen. Sie hatte sich eine große Familie gewünscht, so wie ihre eigene. Aber Frank wollte sie nicht.
    Der Genforscher zog weitere Blätter hervor, auf denen die Namen ihrer Söhne standen. Matthew, John, Mark, Luke. Die vier Evangelien. Jeder Name eine Abbitte an Gott. Sie alle hatten Doktor Hashmi Blutproben von sich geschickt. Er erklärte ihr, dass das Sammeln dieser Proben von allen direkten Verwandten viel Zeit in Anspruch genommen hatte. Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr. »Die Ergebnisse schließen Frank als Vater aus, und – das hat mich erstaunt – sie zeigen, dass jeder Ihrer Söhne offenbar einen anderen Vater hat.«
    Was musste er von ihr denken?

Weitere Kostenlose Bücher