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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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gelindert hatte. Sie beschrieb ihnen ihre Mutter, wie sie sie vor Augen hatte – eine große Frau mit einem staubbedeckten Kopftuch auf dem Haar.
    »Abends, wenn ich einschlafe, versuche ich mir ihr Gesicht vorzustellen, aber da ist nichts. Ich denke, dass sie braune Augen gehabt haben muss und ihre Nase meiner glich.« Anna griff sich ins Gesicht und ließ ihre Finger darüberwandern. Sie legte die Hände um ihre vollen Wangen und klopfte mit einem Finger gegen ihre breite, dreieckige Nase. Ihre Unterlippe war viel größer als ihre Oberlippe, und manchmal, wenn sie ihr Gesicht entspannte, sah es aus, als würde sie schmollen.
    Während sie sprach, saß Doktor Hashmi einfach nur da. Elizabeth fand, dass er wie jemand wirkte, der auf einem zu schmalen Stuhl saß, und jedes Mal, wenn Anna eine Pause machte, bewegte er die Lippen, als wollte er etwas sagen. Als Anna sich schließlich in ihrem Stuhl zurückgelehnt hatte und Callie und Erin keine weiteren Fragen mehr einfielen, erhob sich der Doktor und ging im Zimmer auf und ab. »Es wäre möglich, dass Ihre Mutter noch lebt.«
    Anna schüttelte den Kopf. »Das wäre ein Wunder.«
    »Aber willst du es denn nicht herausfinden?« Erin ging zu Anna hinüber und kniete sich neben ihren Stuhl. Sie war zu dem gleichen Schluss wie der Doktor gekommen, das konnte Elizabeth erkennen. Sie war immer schon optimistisch gewesen und glaubte daran, dass man nur die Augen öffnen musste, um das Glück zu finden. Es war dieser Glaube, der sie dazu angetrieben hatte, ihre Mutter freizubekommen, und Elizabeth begriff, dass ihre Urenkelin nun eine neue Aufgabe gefunden hatte.
    »Ich, ich weiß nicht genug über sie«, sagte Anna.
    Elizabeth dachte an all die Dinge, die Wealthy ihr vor über sechzig Jahren erzählt hatte. »Dein Bruder sagte, dass sie höchstens vierzehn war, als sie dich bekommen hat. Wealthy erzählte mir, dass sie aus einem Waisenhaus angeworben wurde, um für deine Eltern zu arbeiten, weil dort keine älteren Mädchen wohnen durften. Im Jahr darauf war sie schwanger.«
    »Trotzdem kann sie nicht mehr leben. Niemand wird älter als hundertzwanzig.«
    »Sie wäre inzwischen hundertsiebenundzwanzig«, sagte Erin. »Plus minus ein Jahr.«
    »So alt wird niemand«, warf Elizabeth ein und malte sich aus, was die Last weiterer dreißig Lebensjahre für sie bedeuten würde.
    »Es ist nicht unmöglich«, sagte Doktor Hashmi und legte seine Hände besitzergreifend über Annas.
    »Ist es doch«, beharrte Elizabeth und stand auf, nur, um sich sofort wieder hinzusetzen. Zum ersten Mal fand sie, dass Doktor Hashmis Verhalten etwas Berechnendes hatte.
    »Ich denke – nein, wir denken, dass sie noch weitere dreißig Jahre vor sich hat, auch wenn sie natürlich umweltbedingt weiter altert.« Doktor Hashmi sprach so schnell, dass ihm die nonverbale Konversation zwischen den Frauen entging.
    »Was hat dir mein Bruder noch erzählt?«, fragte Anna.
    Elizabeth sah ihre Mutter nicht an. »Das meiste, was ich weiß, weiß ich von Mims.«
    »Das hast du aber ganz schön lange für dich behalten.« Annas Stimme klang nicht mehr freundlich; sie klang nun wie die einer Mutter, und Elizabeth fühlte sich wie damals als Mädchen, wenn sie dabei erwischt worden war, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
    Callie stand auf und stellte sich zwischen Anna und Elizabeth, als ahnte sie, dass gleich ein Schiedsrichter nötig wäre. »Wir könnten nach Australien reisen. Versuchen, es herauszufinden. Es könnte umsonst sein, aber …«
    »Wir müssen es sogar tun«, sagte Doktor Hashmi. »Oder vielmehr, ich muss es tun. Für den Fall, dass sie lebt oder dass es andere Verwandte mit dieser Mutation gibt.«
    Elizabeth beachtete ihre Tochter und den Doktor nicht mehr. »Sie wusste nicht, woran du dich erinnerst, und sie wollte dich nicht unglücklich machen. Wealthy ging es genauso. Aber wenn du es wusstest, warum hast du nie etwas gesagt?«
    »Vater hat mir gesagt, wenn ich der Überzeugung sei, nicht zur Familie zu gehören, dann würde er mich nach Australien zurückschicken. Er sagte, es sei nur ein Traum, und Mims sei meine Mutter.«
    Erin sprang Anna augenblicklich bei. »Aber du hast ihm doch nicht geglaubt!«
    »Wie sollte ich? Die Erinnerung daran, wie er mich aus ihren Armen gerissen hat, war viel zu real, als dass es ein Traum hätte sein können. Ich konnte sie riechen, habe ihre Tränen geschmeckt.«
    »Und du hast Mims nie danach gefragt?«, wollte Erin wissen.
    »Ich hatte Angst,

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