Der Olivenhain
ihr ganzes Leben, und ihr Wunsch nach Vergebung machte sie mürbe. Anna mochte keine Tränen, sie hielt Weinen für reine Zeitverschwendung. Beim Anblick ihrer heulenden Enkelin platzte ihr der Kragen.
»Habt ihr vielleicht schon einmal an das Naheliegendste gedacht?«, rief sie.
Bets seufzte. »Ich will es gar nicht wissen. Sie ist noch viel zu jung dafür.«
»Ihre Mutter war auch erst siebzehn«, schluchzte Callie, schob ihre Milch beiseite und tupfte mit der Serviette ihre Tränen ab. Anna sah die dicke Schicht Kakaomasse am Boden der Tasse.
»Wir müssen doch wissen, woran wir sind«, sagte Anna. »Ich werde sie jetzt aufwecken, und dann sprechen wir sie direkt darauf an.«
»Und wenn wir falsch liegen mit unseren Vermutungen?«, fragte Callie.
Anna erhob sich, doch Bets legte ihr die Hand auf den Arm. »Lass mich das machen.«
Trotz ihrer harten Schale war Bets ihrer Urenkelin stets sehr nahe gewesen. Callie hingegen war wegen ihrer ungeheuren Schuldgefühle nie ein guter Mutterersatz gewesen.
»Und wenn es doch stimmt?«, wimmerte Callie.
»Dann hat sie eine folgenschwere Entscheidung getroffen«, erwiderte Anna.
Bets verzog den Mund. »Mir wäre es wirklich auch lieber, es wäre nicht wahr. Haben wir nicht alles getan, um ihr ein freies, unbeschwertes Leben zu ermöglichen? Verdammt und zugenäht!«
Anna hatte keine Lust mehr, sich das Gerede weiter anzuhören. Sie wusste genau, was los war. Als Erin aus dem Wagen gestiegen war, hatte sie es geahnt: Die sechste Generation war unterwegs. In der vergangenen Nacht hatte sie bereits von dem Kind geträumt und ein Ziehen im Unterleib gespürt, als ob seine Nabelschnur nicht nur mit Erin, sondern auch mit ihr verbunden wäre.
A USZUG AUS DEM V ORTRAG
»D AS E NDE DES A LTERUNGSPROZESSES«,
GEHALTEN IM D EZEMBER 2006 VOR DEM
US- AMERIKANISCHEN B UNDESAUSSCHUSS
FÜR A LTERSFRAGEN
Von Dr. Amrit Hashmi
Viele klassische Sagen handeln vom menschlichen Streben nach Unsterblichkeit. Hinter den meisten Religionen – ob sie nun an Auferstehung oder Wiedergeburt glauben – steckt der Wunsch, die Lebensspanne zu verlängern, die wir bewusst wahrnehmen können. Die Idee, in einem neuen oder verjüngten Körper das Leben noch einmal von vorn zu beginnen, mag seltsam erscheinen, doch ich erinnere daran, dass wir alle hier im Saal durch Tierversuche und Zuchtkulturen in der Petrischale auf die eine oder andere Weise daran arbeiten. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters, und der Mensch wird in Zukunft nicht mehr die Götter, sondern die Wissenschaft befragen, wenn es um das ewige Leben geht.
Mein besonderes Interesse gilt jedoch nicht der Unsterblichkeit, sondern der Alterslosigkeit, dem Phänomen des nicht erkennbaren Alterns. Den meisten von uns wird die tragische Geschichte von Eos und ihrem Geliebten Tithonos bekannt sein. Die Göttin der Morgenröte aus dem Geschlecht der unsterblichen Titanen hatte sich unglücklicherweise in einen Sterblichen verliebt. Als Tithonos langsam älter wurde, erbat sie von Zeus Unsterblichkeit für ihn, doch in der Eile vergaß sie, ihn auch um ewige Jugend zu bitten. Als er ein alter Mann war, konnte Eos den brabbelnden, greisen Mann mit der keifenden Stimme nicht mehr ertragen. Also ließ sie ihn von Zeus in eine Zikade verwandeln; der Unselige sehnt wohl noch immer seinen Tod herbei, und ich frage mich, ob Tennyson ihn im Sinn hatte, als er schrieb: »Selbst die Götter können ihre Geschenke nicht widerrufen.«
Wir sollten Tithonos’ Schicksal ernst nehmen. In diesem Kreis wurde jüngst die Hypothese geäußert, dass der erste Mensch, der das Alter von einhundertfünfzig Jahren erreichen wird, bereits geboren ist. So aufregend das klingt, mir tut die Frau – und aller statistischen Wahrscheinlichkeit nach wird es eine Erstgeborene weiblichen Geschlechts sein, die an der Westküste der USA in einer Großfamilie aufwächst – jetzt schon leid. Denn wenn wir nicht in der Lage sind, den Alterungsprozess aufzuhalten, dann wird das kein Geschenk der Götter, sondern nur eine schlichte Verlängerung der Lebensdauer ohne messbaren Nutzen für die Menschheit sein. Eine Generation von zukünftigen Hochbetagten wird heranwachsen, die, wie Tithonos, im Kerker eines verfallenden Körpers ihr irdisches Dasein fristet.
Deshalb ist es wichtig, gemeinsam daran zu arbeiten, den Alterungsprozess zu verlangsamen. Diesem Ziel habe ich mein ganzes Berufsleben gewidmet. In den vergangenen zehn Jahren konnte ich im Rahmen eines
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