Der Olivenhain
zurückkehren. Das Einzige, was ich habe, ist das Versprechen des Staates Kalifornien, meine Mutter zu mir zurückzuschicken, wenn sie wieder in die Gesellschaft zurückkehren darf. Darauf habe ich mich immer verlassen, und ich hoffe sehr, dass der Staat Kalifornien sein Versprechen hält.« Sie hielt inne, stützte sich mit den Händen am Tisch ab und beugte sich vor.
»Und dass Sie Ihr Versprechen halten.«
Erin ließ die Worte einen Moment im Raum nachhallen und überließ die Zuhörer für kurze Zeit dem leisen Summen des Ventilators. Doch bevor sie in Gedanken abdriften konnten, hob sie erneut an und ließ ihre Stimme nun eine Oktave höher klingen. Das wirkte mädchenhafter, und sie hoffte, so könnte sie die Richter bei ihrem Gewissen packen. »Ich werde Sie nicht bitten, meine Mutter freizulassen. Ich will Ihnen nur erklären, wie sehr sie mir fehlt. Wie dringend ich sie brauche.«
Sie legte die Hände auf ihren Bauch und sah zu Boden. »Bei einem Mädchen ohne Mutter sind Ausrutscher vorprogrammiert. Ich habe Fehler gemacht und wünsche mir jemanden, der mir hilft und mir sagt, dass alles gut wird und am Ende des Tunnels immer ein Licht leuchtet. Ich brauche eine Mutter, die mir das sagt, sodass ich meinem Kind später überzeugend erklären kann, dass man durchs Fallen lernt, wieder aufzustehen. Aber so, wie die Dinge stehen, fällt es mir schwer, das zu glauben. Es sind nur leere Worte, die man mir predigt. Denn seit Jahren warte ich vergeblich darauf, dass meine Mutter die Chance bekommt, wieder aufzustehen. Sie wurde ihr nie gewährt. Und sie hat sich wahrlich bemüht, das weiß ich.«
Erin hätte nun gern einen der Männer an der Schulter oder am Arm berührt, um unmittelbaren Kontakt herzustellen. Doch ihre Arme reichten nicht über den Tisch. Also tat sie, was sie am besten konnte: Sie versuchte die Menschen durch ihre Stimme zu berühren.
»Wiedergutmachung, darum geht es, nicht wahr? Mein ganzes Leben lang war sie im Gefängnis und hat sich dort stets vorbildlich verhalten. Während der langen zwanzig Jahre dort erhielt sie nicht eine Rüge, keinen einzigen Verweis wegen ungebührlichen Verhaltens oder tätlichen Auseinandersetzungen. Sie hat im Vollzug ein Projekt für junge Mütter ins Leben gerufen, denen es so erging wie ihr, weil sie ihre Kinder allein draußen zurücklassen mussten. Doch das wissen Sie besser als ich. Sie kennen die Fakten genau. Nur wie es sich als Kind ohne Mutter lebt, das wissen Sie nicht. Wie es sich anfühlt, wenn man nur mit der Idee einer Mutter groß wird und von der Mutter der Mutter versorgt wird.«
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie eigentlich auf etwas anderes hinaus. Der nun folgende Teil ihrer Rede war schwieriger, denn nun musste sie den Ausschuss davon überzeugen, dass das, was Carls Mutter gleich sagen würde, nicht der Wahrheit entsprach, und dass deren zur Schau getragenen Gefühle unecht und aufgesetzt waren.
Erin wandte sich ab, um Carls Mutter in die Augen zu sehen. Die saß mit gesenktem Kopf da und würdigte Erin keines Blickes. »Du hast deinen Sohn verloren, aber ich habe meinen Vater verloren. Du hast ihn großgezogen und durftest erleben, wie er zuerst zum Mann und dann zum Vater wurde. Das alles war mir verwehrt. Bitte hör auf, mich, dein einziges Enkelkind, dafür zu bestrafen, dass dein Sohn nicht mehr lebt. Dein Verlust ist mit Worten nicht wiedergutzumachen, das weiß ich. Aber bitte. In Gottes Namen. Sie hat ihre Zeit abgesessen.«
Erin sank fast in ihren Stuhl. Sie war überrascht, wie erschöpft sie war und wie sehr sich dieses Plädoyer von ihren Bühnenauftritten unterschieden hatte. Sie sah hinüber zu Anna, der Tränen über die Wangen liefen.
Als sie Anna weinen sah, kamen Erin plötzlich Zweifel, ob sie das Richtige getan hatte, denn Anna weinte sonst nie. Erins Bedürfnis, ihre Mutter bei sich zu haben, war im Grunde erst seit ihrer Schwangerschaft so stark geworden und hatte sie den ganzen Winter über aufgerieben. Nun, da es fast so weit war und die Anhörung sich dem Ende zuneigte, wurde sie auf einmal unsicher.
Sie beschloss, auf ein Zeichen Gottes zu vertrauen. Wenn das alles nicht sein sollte, wenn Deb nicht dazu bestimmt war, freizukommen, dann würde Carls Mutter jetzt die Rede ihres Lebens halten. Sie würde die Schwachstellen in Erins Argumentation finden und darlegen, dass es allemal besser war, keine Mutter zu haben, als eine, die den eigenen Vater getötet hatte. Erin senkte das Haupt und schloss einen
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