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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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über.
    Deborah presste sich gegen die Wand, und Serna lachte bitter auf. »Bloß nicht die Nerven verlieren. Es ist nicht so, wie du denkst. Ich hab mich nur mit ein paar Kerlen amüsiert, und dann kam einer auf die Idee, dass es doch geil wäre, wenn ich seinem kleinen Bruder mal eben die Unschuld nähme. Der Knabe war erst dreizehn, aber ich schwöre bei Gott, der wusste ganz genau, was Sache war. Sie haben versucht, mir alles Mögliche anzuhängen, am Ende lief’s auf sexuellen Missbrauch eines Minderjährigen hinaus. Sechs Jahre hab ich dafür kassiert.«
    Deborah zuckte zusammen. Zwanzig Jahre in Chowchilla hatten sie gelehrt, bestimmte Frauen zu meiden. Aus reinem Selbstschutz musste sie nun versuchen, sich Sernas Respekt zu verschaffen. »Ich hab mein Glück bei einem der Geschworenen riskiert. Hat sich aber rausgestellt, dass die es überhaupt nicht schätzen, wenn eine ein Feuerwerk auf ihre Kerl loslässt.«
    »Cuidado con lo que dices«, murmelte Serna, als sie aus der Umkleide traten. Deborah verstand gerade genug Spanisch, um zu wissen, dass ihr von Serna während der einstündigen Fahrt nach Fresno keine Gefahr drohen würde.
    Fresno lag südlich von Kidron. Im Bus grübelte sie weiter über alle möglichen Gründe, warum Erin nicht gekommen war. War der Verkehr schuld? Hatte es einen Stromausfall gegeben und der Wecker nicht geklingelt? Heutzutage hatten doch alle ein Handy mit Weckfunktion. An diese Neuerungen musste sie sich erst gewöhnen. Als sie ins Gefängnis kam, gab es noch nicht einmal schnurlose Telefone.
    Sie näherten sich dem Zentrum von Fresno, und Deborah hörte auf zu grübeln. Stattdessen stieß sie ihren Kopf rhythmisch gegen die Autoscheibe. Die Greyhound-Station lag in einem heruntergekommenen Teil der Stadt, der in den Sechzigerjahren wahrscheinlich seine Blütezeit gehabt hatte und seitdem verwahrloste. Am Himmel trieben ein paar Wolken, und es blies ein kühler Wind. Deborah dachte an die vielen kalten Winter in Chowchilla.
    Ein Wachmann begleitete sie bis in die Bahnhofshalle. Zwei stinkende Männer mit Bart schliefen in neongelben Schlafsäcken am Eingang. Das blaue »h« von »Greyhound« an der Tür war abgeblättert, und die wenigen Passagiere, die auf den grauen Plastiksitzen auf ihren Bus warteten, wirkten armselig und elend. Einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an den Tag, als sie das letzte Mal an einer Greyhound-Haltestelle gewartet hatte.
    »Sie müssen in meiner Gegenwart eine Fahrkarte in ihren Bezirk kaufen«, sagte der Wachmann und blickte in die Unterlagen. »Danach trage ich keine Verantwortung mehr für Sie.«
    Serna blickte in die weiträumige Halle und zögerte, bevor sie sich für eine der beiden Reihen entschied. Deborah wusste genau, was in ihr vorging. Sie sah zu, wie Serna ein Ticket nach Los Angeles löste und dann die noch übrigen Geldscheine mehrmals faltete, bevor sie sie wieder einsteckte. Als Deborah an der Reihe war und gerade einen Fahrschein nach Kidron lösen wollte, rief jemand: »Mum, warte! Ich bin hier!«
    Deborah zögerte, bevor sie sich umdrehte. Aber sie hatte Erins klangvolle Stimme sofort erkannt. Ihre Tochter stand am Eingang des Busbahnhofs, in der Hand ein halbes Dutzend bunte Luftballons mit neonfarbenen Willkommensgrüßen.
    »Na endlich, das wurde auch Zeit«, sagte Deborah und ließ sich das Geld von dem grinsenden Angestellten zurückgeben. Als Deborah unbeholfen versuchte, Erin schnell zu umarmen und dabei um ihren dicken Bauch herumzumanövrieren, lösten sich die Ballons aus Erins Hand und schwebten langsam zur Decke hinauf.

2.
    Freie Wahl
    I m Auto erklärte Erin mit einer vagen Handbewegung, warum sie so spät dran war: »Ich bin heute Morgen einfach nicht so richtig in die Gänge gekommen.«
    »Eine Minute später – und ich wäre weg gewesen!«
    »Aber nun bist du ja hier, und ich auch, und wir fahren gemeinsam nach Hause.« Erins Stimme zitterte vor Aufregung.
    Doch anstatt ihrer Tochter die Hand auf die Schulter zu legen und glücklich auszurufen: »Wie schön!«, fragte Deborah, wann sie anhalten würden, um etwas zu essen. »Aber keine Kantine! Ich will heute etwas Anständiges essen.«
    »Ich kenne ein nettes Café in der Nähe von Modesto«, murmelte Erin und tupfte sich mit ihrem Baumwollschal Tränen aus den Augenwinkeln. Sie deutete aus dem Fenster und fragte: »Und, findest du, die Welt hat sich verändert? Ist sie größer, höher, weiter geworden?«
    »Kann ich nicht sagen, keine Ahnung. Ich

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