Der Olivenhain
Kinderarzt gerufen, der gleich hier sein müsste. Nur für alle Fälle.«
Bets legte ihren Arm um Deborah. Gemeinsam beobachteten sie die Szene von der Tür aus. »Es war richtig, dass du für deine Tochter eingestanden bist.«
»Nur noch einmal kräftig pressen!«, sagte eine Schwester gerade zu Erin.
Der lang gezogene Schrei ihrer Tochter, als das Baby endlich kam, unterschied sich nur unwesentlich von manchen Arien, die Erin sonst auf der Bühne geschmettert hatte. Der melodische Klang ihrer Stimme zog alle für einen Augenblick in seinen Bann. Dann brach Hektik aus.
»Herzfrequenz fallend«, raunte eine Schwester, die am Rollwagen mit der Babywanne stand.
»Komm schon, komm schon, komm schon«, murmelte die Ärztin, während sie vorsichtig das Kind herauszog und die Nabelschnur durchtrennte.
»Das hast du gut gemacht, Schätzchen. Wirklich fantastisch!«, lobte Callie.
»Es ist ein Junge«, sagte Anna.
»Geht’s ihm gut? Was ist los? Was macht ihr denn mit ihm?«, rief Erin und ließ sich matt in die Kissen sinken, während ihr Tränen über die Wangen strömten.
7.
Kommen und Gehen
A l s das Baby da war, wurden alle aus dem Zimmer geschickt. Nur Callie durfte bleiben. Die Uhr tickte, und Deborah wurde wieder bewusst, wie schnell die Zeit verging. Sie wollte hinausgehen, um der Krankenhausluft zu entfliehen. Im Mai roch es in Kidron überall nach Olivenblüten, und die Gräserpollen kitzelten in der Nase.
Hätte sie ein normales Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, hätte Deborah sie später gebeten, mal wieder Kartoffelpüree und gedünstete Rote Beete zu machen. In Chowchilla waren das Püree aus der Tüte und die Rote Beete aus der Dose gewesen. Wieder spürte sie die Zeit schneller ablaufen, der Zeiger tickte, sie musste all diese Gedanken zu fassen kriegen, bevor er weiterrückte.
Nichts war so wie in den Seifenopern im Fernsehen. Kein gut aussehender junger Arzt, auch keine Schwester in eng anliegendem OP-Kittel stürmte aus der Tür heraus, riss sich den Mundschutz vom Gesicht und rief freudestrahlend: »Alles ist gut, das Kind lebt!« Stattdessen kam Callie nach einer Stunde mit grauem Gesicht aus der Tür und sagte, Erin und das Kind wären über den Berg, doch beide bräuchten jetzt viel Schlaf.
»Gott sei Dank!«, rief Deborah. »Kann ich zu ihnen? Ich möchte mein Enkelkind sehen.«
»Dir ist doch hoffentlich klar, dass das alles deine Schuld ist?«, sagte Callie und machte drohend einen Schritt auf Deborah zu.
»Ich hab nur getan, was jede Mutter tut …«
»Du bist aber nicht ihre Mutter! Anna ist ihre Mutter, denn sie hat ihr am ersten Schultag die Hand gehalten. Bets ist ihre Mutter, denn sie hat ihr das Fahrradfahren beigebracht. Und ich! Hast du eine Ahnung, was ich alles für deine Tochter getan habe?«
»Ich bin überhaupt nicht schuld«, rief Deborah und sah sich Hilfe suchend um. Bets ließ sich unbeholfen in einen weißen Plastikstuhl sinken, während Anna die Szene mit hellwachen Augen verfolgte.
»Lasst es endlich raus«, sagte sie schließlich. »Fackelt die Hütte ab, dann könnt ihr hinterher sehen, was noch aus der Asche zu retten ist. Dieses zermürbende Hin und Her bringt euch jedenfalls keinen Schritt weiter.«
Kaum hatte Anna den Satz zu Ende gesprochen, keifte Callie wieder: »Natürlich bist du schuld, denn du hast ihren Vater umgebracht! Kapierst du das nicht? Alles ist deine Schuld! Du hast ihr von Anfang an die Chance verbaut, einen netten Mann zu finden, zu heiraten und bis ans Ende ihrer Tage glücklich zu werden. Und jetzt musst du dich auch noch einmischen, statt die Ärzte in Ruhe ihre Arbeit machen zu lassen. Warum musstest du dich ausgerechnet heute auf ihre Seite schlagen? Das hätte dir früher einfallen können.«
Deborah wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Verzweifelt suchte sie nach Unterstützung und einem freundlichen Blick. Doch die anderen, auch Bets, hielten die Köpfe gesenkt. Sie sah Callie an. Ihre Kleider waren verrutscht und zerknittert. Die schweißnassen Haare klebten an einer Seite des Kopfes, der Ansatz hätte dringend nachgefärbt werden müssen. Sie war merklich erschöpft von der schweren Geburt, ihr Blick war klar, nur ihre Hände zitterten.
Deborah pflanzte sich vor ihrer Mutter auf und spuckte ihrer Mutter die Worte fast ins Gesicht. »Was willst du eigentlich? Es ist doch alles gut gegangen. Du suchst nur nach einem Vorwand, mir die Schuld zu geben. Dafür bin ich gut genug, nicht wahr? Schon als Kind habe ich
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