schmales Buch, das er aus der Hosentasche gezogen hatte. »Wollen mal schauen, wie groß der Schaden ist, den Sie angerichtet haben.« Er zog seine Hose hoch und ging in die Klinik.
»Warum waren Sie im Gefängnis?«, fragte der Wachmann.
»Ich habe meinen Mann erschossen.«
Er rückte ein Stück weiter weg.
»Mit der Knarre meines Großvaters.«
»Es scheint Ihnen aber nicht besonders leid zu tun.«
»Früher schon, aber heute bedaure ich eher, was das für einen Rattenschwanz an Problemen nach sich gezogen hat.«
»Sie tun sich keinen Gefallen mit dem, was Sie da sagen. Das ist Ihnen doch klar?«
Sie stand auf, um ein paar Schritte zu gehen. »Meinen Sie, die buchten mich wieder ein?«
Der Wachmann ribbelte einen harten Kaugummi von der Bank. »Ehrlich gesagt, versteh ich nicht, warum die Sie überhaupt rausgelassen haben.«
Mit einem mechanischen Brummen öffneten sich die Flügel der Eingangstür, und Bets trat heraus. Sie hielt schützend die Hand über die Augen und ging direkt auf den Wachmann zu. In gebieterischem Ton, den alte Menschen Jüngeren gegenüber oft anschlagen, um sie auf Trab zu bringen, sagte sie: »Sie hat sich längst wieder gefangen, was soll das also noch? Sie haben nichts zu befürchten. Nehmen Sie ihr die Plastikdinger ab.«
Widerspruchslos zog er ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche und schnitt die Kabelbinder durch. Deborah spürte die kalte Klinge am Handrücken. Ihre Arme waren eingeschlafen und hingen kraftlos herunter. Bets legte dem Wachmann die Hand auf die Schulter, beugte sich über ihn und wechselte leise ein paar Worte mit ihm. Deborah verstand nicht, worum es ging, doch sie hörte die Dringlichkeit in Bets’ Tonfall. Als der Mann plötzlich ankündigte, drinnen mal nach dem Rechten zu sehen und sich einen Kaffee zu holen, war Deborah nicht einmal erstaunt.
»Mutter sein ist Freude und Last zugleich«, seufzte Bets. »Wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte, würde ich mehr Abstand wahren. Dass wir nun alle wieder aufeinanderhocken, hat uns einander nicht nähergebracht. Liebe wächst nur durch Abstand. Callie und ich hatten es immer schwer miteinander. Sie war nicht die Tochter, die ich mir wünschte, und sie hat mir nie verzeihen, dass ich sie das spüren ließ. Ich …«
»Du trägst keine Schuld, Großmutter«, entgegnete Deborah. Sie spürte tausend kleine Nadelstiche, als die Durchblutung in ihre Arme zurückkehrte.
»Doch, es ist meine Schuld. Callie ist, wie sie ist, weil ich bin, wie ich bin. Und ihr beide passt auch nicht zusammen. Ich begreife nicht, warum Gott immer Menschen zusammenbringt, die gegenseitig die schlechten Seiten aus sich herauskitzeln.«
»Immerhin hat Gott mir dich gegeben«, sagte Deborah und streckte die Arme nach ihr aus, obwohl sie immer noch stark kribbelten.
Während sie sich innig umarmten, kam ein Krankenwagen mit Blaulicht angefahren. Zwei Rettungshelfer schoben einen alten Mann auf einer Bahre an ihnen vorbei, der sie mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen ansah. Deborah horchte auf die Geräusche der langsam erwachenden Stadt. Rund um den Parkplatz brummte der Verkehr, einige Klinikangestellte rauchten nach der Nachtschicht noch eine Zigarette zusammen.
»Willst du abhauen?«, flüsterte Bets.
»Wie schlimm ist es denn?«
»Ziemlich schlimm. Die Klinikleitung besteht auf einer Festnahme, obwohl Anna Callie davon abbringen konnte, Strafanzeige zu erstatten. Sie gab bei der Vernehmung an, sie sei ausgerutscht. Wenn ich nicht schon so alt wäre, hätten sie mich bestimmt nicht alleine zu dir gelassen. Aber alte Leute werden leicht unterschätzt. Anna und ich wissen das gut.«
Bets drückte Deborah die Hausschlüssel in die Hand. »In Annas Kommode unter den Strümpfen und in der Kaffeedose auf dem Kühlschrank ist Geld. Callie schließt den Tresor im Laden nie ab, wenn du …«
»Mach dir keine Sorgen um mich, sag mir lieber, wie es dem Baby geht.«
Ein paar Minuten blieben ihnen noch. Gespannt hörte Deborah ihrer Großmutter zu, die von den bezaubernden Grübchen des Kleinen und seiner reizenden Art, die Fingerchen beim Schlafen zu kreuzen, schwärmte.
Aus den E-Mails von Calliope und Amrit:
Von: Amrit Hashmi <
[email protected] >
Betreff: Gratulation und Beileid
Gesendet: 21. Mai 8:48
An: Callie <
[email protected] >
Cham-Cham,
wenn dir eine Frucht entgleitet, landet sie meist in einem Milchtopf. Weißt Du, was ich damit meine? Es bedeutet, dass die Flucht Deiner Tochter nicht nur