Der Olivenhain
machen, weil ich herausfinden will, warum Du, Deine Mutter und die Mutter Deiner Mutter so langsam altern. Eure Gene werden Aufschluss darüber geben, ob die Ursache in bestimmten Proteinen liegt oder ob vielleicht andere Mechanismen eine Rolle spielen, die wir noch nicht kennen – und vielleicht nie bestimmen können. Damit beschäftige ich mich jeden Tag hier im Labor, das ist meine Aufgabe.
Ich vermisse Dich wahnsinnig!
Alles Liebe, A.
IV
Calliope im Sommer
1.
Die einzige Überlebende
E r st einen Monat nach Deborahs Verschwinden betrat Calliope den Pit Stop wieder. Sie hatte mehrmals Anlauf genommen, doch stets kam ihr ein neuer Kälteeinbruch in die Quere, der ihrem kranken Bein überhaupt nicht guttat. So hatte sie einen guten Vorwand, um bei Erin und dem kleinen Keller in Hill House zu bleiben. Oft saßen sie auf der Veranda und beobachteten, wie der kalte Nordwind durch den Olivenhain fegte. Am Anfang waren Anna und Bets noch behutsam um sie herumgeschlichen, doch mit der Zeit schwand diese Rücksichtnahme.
Callie und Erin beteuerten sich jeden Tag aufs Neue, was sie bald alles in Angriff nehmen würden: »Wenn ich morgens meinen Atem nicht mehr sehen kann …«, sagten sie und zählten all die Dinge auf, die liegen geblieben waren. Das kalte Wetter verschaffte ihnen einen Aufschub bis Mitte Juni, dann endlich brach der Sommer an, und die Gespräche drehten sich nicht mehr ständig um Deborahs Verschwinden, sondern um die Frage, wie hoch die Erträge des Olivenhains dieses Jahr ausfallen würden.
Nun, da es warm war, fühlte Calliope sich um Jahre jünger, sie lächelte öfter, schluckte weniger Tabletten, und ihre Schmerzen im Bein wurden erträglicher. Nach zwei sonnigen Tagen hintereinander wachte sie morgens auf und war voller Tatendrang. Also beschloss sie, im Pit Stop vorbeizuschauen, und war noch vor Nancy dort, die in ihrer Abwesenheit die Geschäfte weitergeführt hatte.
Die grelle Morgensonne schien durch die Schaufenster herein und brachte die dicke Schmutzschicht auf allen Oberflächen zum Vorschein. Der Laden brauchte dringend eine Grundreinigung. Calliope kontrollierte jeden Quadratzentimeter und registrierte jedes Staubkorn, das sich auf oder unter einem Regal breitgemacht hatte, jeden Schmutzfleck unter einem Olivenglas, jede Streifspur eines Schuhs auf dem Linoleum.
»Ich sehe, du hast das Plakat abgehängt«, sagte Nancy beim Hereinkommen. Calliope inspizierte gerade die Spinnweben im Verkaufsraum. Die Polizei hatte Nancy gebeten, ein Fahndungsplakat mit einem Foto von Deb ins Schaufenster zu hängen. Calliope hätte das nie zugelassen, aber Nancy hielt sich gerne für die Chefin und traf Entscheidungen, die ihr nicht zustanden.
»Das musste sein«, sagte Calliope und kratzte mit dem Fingernagel den letzten Rest Klebestreifen von der Scheibe. »Man wird sie ohnehin nicht finden.«
»Es sucht ja auch niemand richtig nach ihr, obwohl sie gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen und uns bestohlen hat. Wie viel hat sie eigentlich aus dem Tresor genommen? Was hast du bei der Polizei angegeben? Bestimmt weniger, als sie wirklich geklaut hat.« Nancy setzte ihre Brille auf die Nase. Sie war so alt wie Calliope, wirkte jedoch um einiges älter.
»Wir haben der Polizei alles gesagt, was wir wussten. Erin nimmt es furchtbar mit, dass ihre Mutter schon wieder fort ist. Seit Wochen hat sie das Haus nicht mehr verlassen, und neulich fand ich sie schlafend auf dem Sofa mit dem Baby an der Brust und einem aufgeschlagenen Straßenatlas im Schoß. Sie würde viel drum geben, wenn ihre Mum noch bei ihr wäre oder wenn sie wenigstens wüsste, wo sie jetzt ist.«
»Deine Enkelin hat schon ziemlich viel durchgemacht in ihrem kurzen Leben«, sagte Nancy.
»Auf Deb war nie Verlass, das hätte ich ihr gleich sagen können. Erin darf sich ihr Leben nicht von ihr ruinieren lassen. Bisher habe ich mich immer verantwortlich gefühlt für das, was Deb getan hat, ich dachte, ich bin genauso schuldig an Carls Tod wie sie. Aber mit ihr sind nun auch meine Schuldgefühle endgültig verschwunden. Ich fürchte allerdings, einen Teil davon hat sie Erin hinterlassen.«
»Sie hat das Kind, das lenkt vom Grübeln ab«, entgegnete Nancy und blickte sie in einer Art über den Brillenrand an, dass Calliope klarwurde, dass die Tabletten ihre Zunge gelockert hatten. Nancy kannte die Keller-Frauen gut genug, um sich ihren eigenen Reim auf die Geschichte zu machen.
»Das kennst du ja sicher von deinen vielen
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