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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Calliope vernahm die vertrauten Geräusche, wie ihre Mutter Erin dabei half, Keller zu baden. Ein gelbgrauer Vogel landete auf dem Verandageländer.
    »Das ist ein Bullock Trupial«, sagte Anna. »Ich habe seit Jahren keinen mehr gesehen. Vielleicht habe ich aber auch nur nicht hingeschaut.«
    Calliope schwieg, bis der Vogel fortgeflogen war. Im Flug konnte sie erkennen, dass seine Brust ein dunkleres Gelb hatte, mehr ein Safran- als ein Zitronengelb, und das sagte sie Anna.
    »Es ist ein Männchen. Sie haben ein eigenes Lied«, erklärte Anna.
    »Hätten die Weibchen dann nicht auch ein eigenes Lied?«, fragte Calliope.
    Anna sah sie an und lachte. »Daddy hat mir das beigebracht, und ich schätze, ich habe nie weiter darüber nachgedacht. Für ihn war das Besondere an Vögeln, dass die Männchen schöner aussahen und schöner sangen als die Weibchen. Die Hühner waren ihm lange egal, bis er ihre Nester und die Eier entdeckte und begriff, dass sich die ganze Arbeit lohnte.«
    Es gab so viele Dinge, die Calliope über die Männer in ihrer Familie nicht wusste. Die Geschichten, die an Feiertagen oder Beerdigungen erzählt wurden, handelten stets von den Frauen. Selbst ihre Brüder unterhielten sich über ihre Mutter – sie kannten keine Geschichten über Frank. Eine Folge davon, dass er Calliope stets bevorzugt hatte, nahm sie an. Sie hatte nie Lust gehabt, die Momente, die sie mit ihrem Vater hatte verbringen dürfen, mit anderen zu teilen. Doch nun, da Bets so schweigsam war wie eh und je und ihr Vater sein Gedächtnis verlor, begriff sie, dass es an ihr wäre, die Geschichten ihres Vaters zu überliefern.
    Ihr Vater hatte im Zweiten Weltkrieg an Bord eines der kleineren Schiffe gedient, die im Pazifik stationiert gewesen waren. Sie dachte an die Zeit zurück, die sie gemeinsam im Olivenhain verbracht hatten, als er ihr davon erzählte, wie der Ozean aussah, wenn kein Land in Sicht war.
    In den Geschichten, die er ihr über sich erzählte, stellte sich Frank stets als Spaßvogel dar, der seine Kameraden zum Lachen brachte, indem er den jungen Matrosen Fallstricke legte. Einmal hatte er Calliope gezeigt, wie man wirklich eine solche Schlinge legte, die sich um die Knöchel zuzog und dem Betroffenen die Beine nach oben riss. Monatelang hatte sie versucht, einen ihrer Brüder zu fangen, doch letztlich hatte es nur dazu gereicht, den Familienhund an seinen Hinterläufen aufzuhängen.
    Calliope erzählte Anna davon. »War er so?«
    Anna nickte. »Frank hat jeden zum Lachen gebracht, sogar deinen Großvater Michael, und der war ein verdammter Schweinepriester.«
    »Grandma!« Calliope hatte aus Annas Mund so gut wie noch nie ein Schimpfwort gehört.
    »Wir haben früher ständig Schwein gesagt. Das war ein landwirtschaftlicher Begriff. Irgendwie wurde er dann mit all diesen anderen Schimpfworten vermengt, aber das trifft ganz gut, wie mein Mann war.«
    »Du bist schon so lange allein, weißt, wie man auf eigenen Beinen steht«, sagte Calliope. Sie wollte Anna fragen, warum es für sie so viel einfacher war, allein zu leben, enthaltsam zu sein.
    »Wie ich höre, bist du wieder verliebt. In diesen Doktor«, sagte Anna.
    »Vielleicht.« Sie hätte Anna gern zugestimmt, doch plötzlich kam sie sich albern vor. Sie waren nicht verliebt; sie hatten ein Verhältnis miteinander, und es erschien Calliope nun lächerlich zu denken, sie und Amrit seien verliebt. Sie waren einsam, mehr nicht.
    »Ich habe diesen Unsinn nach Michaels Tod nie gebraucht. Aber damals war das auch anders, es war eigentlich bis vor Kurzem anders. Mir scheint, als wäre es erst seit Neuestem nicht mehr so.«
    Calliope dachte darüber nach, wie es gewesen war, als sie nach ihrem Unfall nach Hause zurückgekehrt war. Wie die meisten Männer, die sich um sie bemühten, im Grunde nur an ihrem Geld und dem Land interessiert waren, nur über sie und ihre Familie verfügen wollten. Einzig Greg Rodgers war anders: Er war schon in sie verliebt gewesen, da war er noch der kleine, dicke Sohn der Kinobetreiber. Sie hatte mit ihren Freundinnen immer über ihn gekichert, wenn sie ins Kino gingen, und seine Verliebtheit ausgenutzt, um Freikarten zu bekommen.
    »Ich schätze, es ist nur für Erin anders, und sie musste losziehen und sich in jemanden verlieben, der ihr Vater sein könnte. So alt, dass er sie so behandelt, wie Männer Frauen früher behandelt haben. Genau wie ihre Mutter. Es gab zu viele falsche Männer in unserem Leben.«
    »Sprich nicht so. Du hast gute

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