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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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nahm die Hand ihrer Mutter und streichelte sie.
    »Alles wird gut. Mit uns wird alles gut«, sagte Calliope, ohne dabei jemand Bestimmten anzusehen.
    Anna nahm ein Geschirrtuch und wischte den Haferbrei von der Wand, dann bückte sie sich, um den Kochlöffel vom Boden aufzuheben. Calliope hatte die beiden seit Jahren nicht mehr so böse miteinander gesehen. Zuletzt vor etwa zehn Jahren. Damals, es war das Jahr, in dem Anna ihren einhundertsten Geburtstag feierte, hatten sie wochenlang kein Wort miteinander geredet.
    Bets mochte es nicht, wenn man sie bemutterte. Calliope fragte sich, ob das schon immer so gewesen war, schon als Bets noch zu klein gewesen war, um für sich selbst zu sorgen. Sie wusste, dass sie von ihrer eigenen Mutter nicht bemuttert worden war. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, begluckt zu werden oder ersticken zu müssen. Ihr Verlangen, aus Kidron fortzugehen, rührte zum Teil daher, dass ihre Mutter sich scheinbar nie dafür interessierte, was sie tat oder wie es ihr ging. Frank hingegen hatte es interessiert: Es war ihr Vater gewesen, der sie die entscheidenden Lektionen des Lebens gelehrt hatte.
    In vielerlei Hinsicht war ihr Frank Vater und Mutter zugleich; seine Söhne hingegen hatte er links liegen lassen. Er überließ es Bets, sie zu bemuttern, und das tat sie auch, verhätschelte sie wie kleine, pflegebedürftige Prinzen und umsorgte sie, als wären sie vom Leben benachteiligt.
    Calliope fröstelte. Sie stand auf und gab Anna einen Kuss auf die Stirn, dann machte sie sich daran, einen neuen Topf Haferbrei aufzusetzen. Dabei unterhielt sie sich leise mit ihrer Mutter, sodass Anna sie nicht hören konnte. »Woher wusstest du von den Zwillingen?«
    »Das wusste ich nicht«, antwortete Bets. Sie nahm den Zimt von der Arbeitsplatte und rührte ihn in den frischen Brei.
    »Du warst aber gar nicht überrascht«, sagte Calliope. »Es schien, als hättest du geradezu erwartet, dass wir etwas in dieser Art finden. Außerdem regst du dich so darüber auf. Du regst dich in letzter Zeit eigentlich über alles auf.«
    »Ich rege mich über ein ganzes Jahrhundert voller kleiner Ärgernisse auf«, sagte Bets.
    »Und doch sind es nur kleine Ärgernisse«, erwiderte Calliope. Sie nahm vier Schüsseln aus dem Geschirrschrank. »Du wirst nur wütend, wenn jemand hinter eines deiner Geheimnisse kommt. Also, was ist es diesmal? Was weißt du?«
    »Ich weiß gar nichts«, entgegnete ihre Mutter und stellte den Haferbrei auf den Tisch.
    Sie aßen schweigend, reichten die Passagierliste herum und dachten laut über Charlotte und Louisa nach. Sie überlegten sich Eigenschaften und Merkmale für sie. Lottie, wie sie sie nannten, hatte Mims’ graue Augen und ihre Grübchen, wohingegen Louisa mehr nach ihrem Vater kam, mit einem leichten Rotstich in den blonden Haaren und seinen Sommersprossen, die interessanter anzuschauen waren als der Nachthimmel.
    Calliope hörte aufmerksam zu, was Anna über Mims und ihren Vater zu erzählen hatte. Bets schwieg, und Erin stellte viele Fragen. Calliope wünschte, sie hätte wie Erin ihre Urgroßeltern gekannt. Annas Erzählung ließ Mims und Percy Davison so lebendig erscheinen, als säßen sie hier bei ihnen am Tisch.
    Der leichte australischen Akzent in Annas Stimme wurde nun immer deutlicher.
    Plötzlich wurde Calliope bewusst, dass sie es einem gene tischen Wunder verdankte, dass sie Anna kennengelernt hatte und so viel Zeit mit ihrer eigenen Mutter verbringen durfte, und das war etwas, das keine Schwester der Welt würde aufwiegen können.

6.
    Unabhängigkeit
    A m Abend vor Amrits Besuch bat Calliope ihre Angestellten Petey und Robert, ein »Zu verkaufen«-Schild in den Grünstreifen vor dem Parkplatz des Pit Stop zu hämmern. Nancy drückte sich in Calliopes Nähe herum, wobei sie keinen Hehl aus ihrem Unmut machte.
    »Hast du deiner Familie erzählt, wie ernst es dem Doktor mit dir ist?«, fragte Nancy. Sie zündete sich eine Zigarette an und stellte sich in die offene Ladentür.
    »Du kannst hier drinnen nicht rauchen«, sagte Calliope.
    Nancy schlurfte ein Stückchen vor, bis ihre Füße außerhalb des Türrahmens standen. »Du hast es ihnen nicht erzählt, stimmt’s?«
    »Da gibt es nichts zu erzählen«, entgegnete Calliope. »Schon Pläne für den 4. Juli?« Sie hörte sich Nancys Gejammer an und wünschte, sie hätte daran gedacht, eine Wasserwaage mitzubringen. Die Jungs hatten das Schild nach Augenmaß aufgestellt und für gerade befunden, für Calliope jedoch

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