Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
den freien Eintritt ins Museum zu sichern.
    Linda fand mich in der Cafeteria. Sie kam von der Arbeit; sie war Büroleiterin in einer Anwaltskanzlei am Rand von Soho. Sie war ein bisschen kleiner als ich und hatte eine praktische Kurzhaarfrisur, ein bisschen ausgefranst, wo die Haare zu ergrauen begannen. Sie trug ein leicht zerknittertes blau-schwarzes Kostüm. Ihr Gesicht war klein, symmetrisch, mit hübschen Zügen, die von einer winzigen Nase betont wurden. Sie war immer auf eine sanfte, nett anzusehende Weise schön gewesen. Aber ich glaubte, mehr Linien und Schatten zu sehen, und sie wirkte ein bisschen gestresst; ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Gewöhnlich deckte sie sich immer bis zur letzten Minute mit Terminen ein, und das hatte sie zweifellos auch heute getan; sie hatte in ihrem Arbeitspensum Platz für mich schaffen müssen.
    Ich spendierte ihr einen Kaffee und erklärte ihr, dass ich vorhatte, den Mauerspaziergang zu absolvieren.
    »Mit diesen Schuhen?«
    Sie trug schlicht aussehende schwarze Lederschuhe mit flachen Sohlen, Dinger, die ich immer »Matronenschuhe« nannte, wenn ich mich traute. »Die sind doch okay.«
    »Nicht meine. Deine.« Ich trug ein Paar meiner alten Hush-Puppies-Slipper. »Wann, zum Teufel, wirst du dir mal Turnschuhe besorgen?«
    »An dem Tag, an dem sie aus der Mode kommen.«
    Sie grunzte. »Du warst schon immer pervers. Aber trotzdem – zwei Stunden Londoner Straßen an so einem schwülen Tag. Warum?… Ach so. Es geht mal wieder um Familienkram, stimmt’s?«
    Sie hatte meiner Familie immer mit Skepsis gegenübergestanden, seit klar geworden war, dass meine Mutter nie wirklich mit ihr einverstanden gewesen war. »Zu unbedarft für deine ausgeprägte Persönlichkeit«, hatte Mum immer zu mir gesagt. Ich glaube, Linda war insgeheim froh gewesen, dass ich ein bestenfalls distanziertes Verhältnis zu meinen Eltern gehabt und nach dem Tod meiner Mutter noch größeren Abstand zu meinem Vater gewonnen hatte. Wir hatten trotzdem noch genug Auseinandersetzungen über Familienangelegenheiten geführt. Aber schließlich hatten wir uns über alles und jedes gestritten.
    »Ja«, sagte ich. »Familienkram. Komm schon, Linda. Seien wir ausnahmsweise mal Touristen.«
    »Wir können ja immer noch in den Pub gehen, wenn es nicht hinhaut«, meinte sie.
    »Na klar.«
    Sie stand auf, sammelte energisch ihre Habseligkeiten ein, warf einen kurzen Blick auf ihr Handy und ging vor mir zur Tür hinaus.
     
    Die Londoner Mauer war ein großer Halbkreis, der bei Blackfriars von der Themse aus im Bogen nach Norden führte, dann an der Moorgate entlang nach Osten und wieder nach Süden zum Fluss beim Tower. Von der Mauer selbst hat nicht viel überdauert, doch selbst nach all dieser Zeit ist die Stadtanlage der Römer im Muster der Londoner Straßen noch präsent.
    Der Rundgang folgte nicht dem ganzen Verlauf der Mauer, sondern nur dem Abschnitt, der östlich vom Museum am Barbican vorbeiführte, dann nördlich der City verlief und am Tower beim Fluss endete. Es sollte kleine, nummerierte Keramiktafeln geben, denen man folgen konnte, die ersten paar im Bereich des Museums selbst, das am Standort einer Römerfestung erbaut war. Tafel Nummer eins war am Tower und Nummer 21 in der Nähe des Museums, wir würden sie also in umgekehrter Richtung ablaufen müssen, was meinen Sinn für Ordnung störte und mir die erste spöttische Bemerkung des Tages von Linda eintrug.
    Im Barbican, diesem dreidimensionalen Betonlabyrinth aus Straßen und erhöhten Gehwegen – »wie ein nach außen gestülptes Gefängnis«, um mit Linda zu sprechen –, waren die Tafeln schwer zu finden. Die erste klebte an der Wand eines modernen Bankgebäudes; hier hatte einmal ein spätrömisches Stadttor gestanden, das nun jedoch schon längst zerstört war. Als wir dorthin kamen, schwitzte Linda bereits. »Geht das jetzt den ganzen Nachmittag so weiter? Beschissene kleine Tafeln, auf denen man sehen kann, wo früher mal irgendwas war?«
    »Was hast du denn erwartet? Gladiatoren?«
    Die nächsten paar Tafeln führten uns um die alte römische Festung herum. In winzigen Gärtchen unterhalb des Straßenniveaus waren kleine Mauerabschnitte zu sehen. Ein großer Teil der Mauer war im Mittelalter überbaut und dann von den Archäologen entdeckt worden. Der Boden hatte sich im Lauf der Zeit immer weiter nach oben verschoben; wir gingen auf einer Jahrhunderte dicken Schuttschicht, ein Maß für die Tiefe der Zeit selbst.
    Die Tafeln siebzehn

Weitere Kostenlose Bücher