Der Orden
orangegelber Streifen in der Luft ab: der gesammelte Rauch tausender Feuer und Laternen, der sich im Morgenlicht noch nicht aufgelöst hatte. Am Horizont erspähte Regina Aquädukte, gewaltige Konstruktionen, die sich durch die Landschaft zogen, eindrucksvolle, gradlinige geometrische Gebilde von erstaunlicher Länge. Sie wusste, dass es zehn Stück waren, zehn künstliche Flüsse, die eine Stadt von mehr als einer Million Seelen mit Wasser versorgten. Unweit der Tore sprossen protzige Mausoleen neben der Straße empor. Da die Bürger ihre Toten nur außerhalb der Stadtmauern bestatten durften, waren die Ausfallstraßen aus der Stadt von Sarkophagen gesäumt. Und um die Friedhöfe der Reichen drängten sich die sterblichen Überreste der Armen, bis zum Hals im Boden vergrabene amphorae voller Asche.
»Ihre Größe – sogar die ihrer Friedhöfe – ist wirklich erstaunlich«, sagte Regina mit leiser Stimme.
Ihr Kutscher drehte sich um und grinste sie an. Er war bestimmt schon über sechzig Jahre alt, und ein einzelner Zahn stand wie ein Stummel in seinem Mund. Er sprach ein raues, ländliches, schwer verständliches Lateinisch.
»Was hat er gesagt?«, fragte Brica.
»Er hat uns im caput mundi willkommen geheißen. Dem Haupt der Welt…«
Sie verstummten, beide in ihre eigenen Gedanken vertieft, während sich die Kutsche über die verkehrsreiche Straße schlängelte.
Rom wurde von Lehmziegeln und roten Dachziegeln beherrscht. Doch in seinem Herzen befanden sich der kapitolinische und palatinische Hügel mit ihren großartigen Palästen und Tempeln, gleich einer schwebenden Insel aus glänzendem Marmor. Regina glaubte, die gebogene Mauer des flavischen Amphitheaters zu sehen; es war erstaunlich groß, wie ein Haus für Riesen.
Auf dem Weg zum Stadtzentrum fuhr die Kutsche jedoch in ein Straßenlabyrinth hinein, und mit dem weiten Blick war es vorbei. Je näher sie dem Zentrum kamen, desto enger standen die Gebäude und desto höher schienen sie emporzuwachsen; es waren wacklige Haufen aus Flechtwerk, Lehm und karmesinroten Dachziegeln, zwei, drei, vier Stockwerke hoch, wie unnatürliche Pflanzen, die um Licht kämpften. An manchen Stellen standen diese insulae so dicht beieinander, dass ihre Balkone sich berührten und den Himmel gänzlich ausschlossen. Der Gestank von fauligen Abwässern und Kochdünsten war überwältigend. Und der Lärm der Stadt, ein unablässiger, misstönender Radau, drohte Regina zu überfluten. Es war das Geräusch von einer Million Menschen, dachte sie, eine Million Stimmen, die zu einem einzigen gewaltigen, unaufhörlichen Getöse verschmolzen, und als sie tiefer in diesen übervölkerten, ungeplanten Irrgarten vordrangen, fühlte sich Regina, als verlöre sie sich in einem riesigen, formlosen Menschenmeer.
Brica wurde noch stiller. Sie zog sich völlig in sich zurück. Wahrscheinlich hatte ihre Tochter in der letzten Stunde mehr fremde Gesichter gesehen als in ihrem ganzen bisherigen Leben, dachte Regina.
Sie ließen sich von dem Kutscher zu einer Speisegaststätte bringen, die er ihnen empfohlen hatte. Deren Besitzer – zufällig der Schwager des Kutschers – gehörten auch einige Wohnungen im Haus über der Gaststube, und der Kutscher hatte versprochen, den Frauen ein Zimmer zu besorgen.
Die Gaststätte lag in einer Straße voller Läden und nahm das Erdgeschoss des Wohnhauses ein. Sie war ein niedriger, gut beleuchteter Raum: Im vorderen Teil saßen Leute auf Bänken, aßen irgendwelche Kleinigkeiten und tranken Wein, während sie dem geschäftigen Treiben auf der Straße zuschauten. Regina sah Marmorplatten, auf denen eine Auswahl von Speisen ausgestellt war, und dahinter ein in grünes Licht getauchtes zentrales Atrium, in dem weitere Tische standen.
Von außen wirkte die insula mit ihrem Dach aus Terrakotta-Ziegeln, ihrer mit Kacheln und kleinen Mosaikbildern verzierten Putzfassade sogar anziehend. Balkone aus Holz und Stein – allesamt mit Topfpflanzen bestückt – ragten aus jedem Stockwerk hervor. Aber die Wohnungen waren klein und eng und wurden immer schlimmer, je weiter man die Treppe nach oben stieg. Und Reginas und Bricas Unterkunft im obersten Stock war bestimmt die schlimmste von allen.
Die Fenster waren mit großen Stücken Baumrinde abgedeckt. Die einzigen Möbelstücke waren zwei an der Wand befestigte Betten, einige Borde und Schränke und ein paar Schemel und niedrige Tische. Es gab ein Kohlenbecken zum Heizen und einen offenen Herd zum Kochen,
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