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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Gina mir gegeben hatte, war nicht mehr aktuell. Sie hatte sich nicht entschuldigt. »Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen«, hatte sie erklärt. »Und überhaupt, man kommt doch nicht auf die Idee, dass Leute dieses Alters umziehen könnten, oder?«
    Lou war offenbar eine Ausnahme. Seine alte Adresse war eine Mietwohnung in Palm Beach gewesen. Es gab keine Nachsendeadresse, aber Dan hatte mir geraten, es bei der American Association of Retired Persons zu probieren. Dieser Rentnerverband erwies sich als kraftvolle Lobbygruppe. Sie wollten mir Lous Adresse nicht geben, stellten jedoch als dritte Partei den Kontakt zwischen uns her. Alles in allem dauerte es ein paar Tage, bis Lou mich schließlich in meinem Hotel anrief und zu sich einlud.
    Er zeigte mir sein Altersheim. Es war wie ein geräumiges Hotel, jedes Zimmer sonnig, mit dutzenden Pflegekräften in weißen Kitteln und einem eigenen, riesigen Grundstück. Die Bewohner konnten sich Berechtigungsscheine für Golfkurse und Privatstrände besorgen. Es gab ein tägliches Trainingsprogramm. Neben Hinweisen auf nostalgische Gemeinschaftsveranstaltungen für alte Leute wie Vorführungen von Filmen aus Kriegszeiten und Tanzveranstaltungen mit Big Bands sah ich Ankündigungen von Gastrednern von Universitäten und anderen akademischen Organisationen zu Themen wie der Geschichte von Florida, der Flora und Fauna der Küstenregion, Art déco und sogar der Geschichte von Disney.
    Als ich meine Begeisterung über all das zum Ausdruck brachte, versetzte Lou mir einen Dämpfer. Er bezeichnete das Altersheim als »Abflughalle«. Er ging mit mir zu einem Tagesraum, wo Reihen von Bewohnern in sorgfältig gearbeiteten Lehnsesseln vor einem riesigen, extrem lauten Breitbildfernseher saßen. »Sie mögen Reality-Shows«, sagte er. »Als wären echte Menschen hier im Raum bei ihnen. Wir bilden tatsächlich eine kleine Gemeinschaft. Aber hin und wieder wird einer von uns weggeholt, und dann kämpfen wir alle um seinen leeren Sessel. Also hör auf, das Alter allzu sehr zu verklären. Es geht dir gut, solange du dich fit hältst und noch alle Tassen im Schrank hast.« Er tippte sich an den kahlen, sonnengegerbten Schädel. »Deshalb laufe ich fünf Kilometer pro Tag, ich schwimme, spiele Golf und mache täglich das Kreuzworträtsel der New York Times.«
    Ich war beeindruckt. »Du kriegst beim Kreuzworträtsel alles raus?«
    »Hab ich das gesagt?… Du willst also über deine Schwester sprechen.«
    Ich hatte ihm die Geschichte am Telefon erzählt. Außerdem hatte ich eine Kopie des Fotos mitgebracht, das von Peter McLachlan eingescannt und gesäubert worden war; Lou hatte einen Blick darauf geworfen, wirkte jedoch nicht sehr interessiert. »Ich möchte die ganze Sache abschließen«, sagte ich.
    »Oder du reißt alte Wunden auf«, warnte er mich. »Ich bin deiner Schwester nie begegnet. Wenn du also wissen willst, wie sie ist…«
    »Erzähl mir einfach die Geschichte«, sagte ich. Ich breitete die Hände aus und versuchte, seinen Paten-Akzent nachzuahmen. »Stell dir die Szene vor. Rom, 1944. Die Befreiungsarmee wird von der lächelnden Bevölkerung willkommen geheißen…«
    Er lachte und klopfte mir auf den Rücken. »Blödmann. Herrje, du bist wirklich der Sohn deines Vaters; der hat die gleichen dämlichen Scherze gemacht. In Ordnung, ich erzähle dir die Geschichte. Und ich erzähle dir, was Maria Ludovica mir erzählt hat.«
    »Wer?«
    »Deine Cousine«, sagte er. »Oder was auch immer.«
    Maria Ludovica. Es war das erste Mal, dass ich den Namen hörte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
    Wir setzten uns in einen sonnigen Tagesraum und unterhielten uns.
     
    »Nachdem wir die Arbeit aufgenommen hatten, es am zweiten Tag wieder Strom für die Krankenhäuser gab, die Telefone am dritten wieder funktionierten und so weiter, hatte ich Zeit, mich ein bisschen umzuschauen. Ich wusste, dass die Familie Wurzeln in Rom hatte. Ich wusste, woher meine Großeltern kamen – aus der Nähe der Via Appia –, und es war nicht schwer, ein paar Casellas in der Gegend ausfindig zu machen. Was immer man über diese Faschisten sagt, ihre Aktenführung war picobello.«
    Also war der junge Sergeant Casella nervös die Via Appia entlanggegangen, die alte Straße, die in südlicher Richtung aus Rom hinausführt. In jenem heißen Herbst des Jahres 1944 wimmelte es in dem Gebiet von Flüchtlingen, und jeder war schäbig, arm, schmutzig und sozial benachteiligt, trotz der großen Anstrengungen

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