Der Orksammler
weiter, anstatt auf diesen Kerl zu warten und ihn nach dem Weg zu fragen?«
In diesem Moment trat hinter der Kurve jemand in den Schein der einsamen Gaslaterne, die dort leuchtete. Ein verzerrter Schatten fiel auf das Kopfsteinpflaster diesseits der Biegung.
»Blaak! Pompom, bei Batardos, was ist das?«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jorge den Schatten an.
Gewiss lag es an der perspektivischen Verzerrung, aber es sah aus, als wäre der spindeldürre Kerl, der unmittelbar hinter der Kurve stehen musste, fast doppelt so groß wie er selbst. Und natürlich konnte es nur einem Spiel des Lichts zuzuschreiben sein, dass seine Arme fast bis auf den Boden herabzuhängen schienen. Wie riesig seine Hände aussahen! Und der Kopf …
Sehr langsam machte Jorge einen Schritt rückwärts.
Die Gestalt hinter der Ecke bewegte sich nicht. Sie stand einfach da, wobei sie leicht zu schwanken schien.
Worauf wartete der Kerl bloß?
Jorge spürte, dass er schwitzte. Unvermittelt kam ihm ein altes Trollsprichwort in den Sinn: Was ist schon das Leben?, fragte es. Du bist tot, bevor du geboren wurdest, und tot, nachdem du gestorben bist. Das Leben ist nur eine kurze Unterbrechung des Todes.
Blaak, warum fiel ihm dieser Blödsinn gerade jetzt ein? Und wieso verspürte er plötzlich dieses eigenartige Gefühl in seinen Därmen, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen? Er hatte nichts Verdorbenes gegessen, im Gegenteil: heute fast noch gar nichts. Vielleicht war es ja das?
Er spürte Pompoms nervöses Zappeln unter seiner Kleidung. Und mit einem Mal dämmerte ihm, dass er Angst hatte!
Jorge war es nicht gewohnt, Angst zu haben. Er horchte in sich hinein, um festzustellen, wie es sich anfühlte, Angst zu haben.
Es fühlte sich beschissen an! Schlagartig wollte er weg von hier. Es kostete ihn alle Mühe, sich zu beherrschen und nicht wie ein Verrückter davonzurennen.
Er durfte sich nicht hektisch bewegen. Wenn er sich zu schnell bewegte, würde das Ding in der Gasse auf ihn aufmerksam werden und um die Kurve rennen!
Als hätte Jorge den Gedanken laut ausgesprochen, kam plötzlich Bewegung in den Schattenriss. Knotige, verwachsen wirkende Arme fuhren in die Höhe, höher und immer höher, bis die Schattenfinger der Hände sich über das aschebedeckte Pflaster bis fast auf die Kreuzung reckten.
Dieser Schatten konnte unmöglich einem Menschen gehören! Selbst für einen Troll war er zu riesig. Und zu verwachsen! Er passte zu überhaupt keinem Lebewesen, das Jorge kannte.
»Ruhig, Pompom«, hauchte er, »nur keine Aufregung.«
Das Leben ist nur eine kurze Unterbrechung des Todes …
Es gab also keine Monster in Torrlem? Wer hatte das behauptet? So ziemlich jeder, mit dem Jorge bisher gesprochen hatte.
Keine Monster also, bei Batardos! Seltsam, dass dann jetzt eines nur wenige Schritte von ihm entfernt hinter der Gassenbiegung stand! Und seltsam, dass es abermals ein Geräusch auszustoßen vermochte, als sauge jemand Flüssigkeit durch eine viel zu enge Öffnung.
Just in diesem Moment begann sich das Ding erneut zu rühren. Kurz hatte Jorge den Eindruck, das bucklige Etwas habe hinter der Biegung begonnen, einen irrwitzigen, taumelnden Tanz aufzuführen.
Schwindel erfasste ihn, als er begriff, was wirklich geschah:
Das Wesen hatte sich in Bewegung gesetzt – es rannte in seine Richtung!
Und dann ging alles ganz schnell: Im gleichen Augenblick, da Jorge mit einem erstickten Keuchen rückwärts in die Gasse sprang, aus der er gekommen war, schoss ein riesiger Schemen um die Biegung, hinterrücks angestrahlt vom grünen Licht der Gaslaterne! Jorge taumelte tiefer ins Dunkel, während etwas an der Mündung der Gasse vorbei- und quer über die Kreuzung raste. Jorge erhaschte einen verschwommenen Bück auf etwas, das wie ein fleischgewordener Schatten aussah – unförmige, gewaltige Extremitäten, ein hündisch vorgestreckter Schädel, zwei Mannslängen hoch über dem Boden …
Und dann, ganz plötzlich, war es fort. Verweht wie Asche, kaum mehr als die Erinnerung an einen flüchtigen Geist.
Jorge wusste nicht, was er denken sollte. Er wusste nicht, was ihn mehr verwirrte: was er glaubte gesehen zu haben oder dass er sich gerade wie ein ängstliches Kind in einer dunklen Gasse verkrochen hatte.
Er machte ein paar vorsichtige Schritte vorwärts, sah sich nach allen Seiten um.
Die Kreuzung war still und menschenleer. Nichts und niemand war zu sehen.
»P-P-Pompom?« Jorge tastete nach seiner Brusttasche, um sich zu
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