Der Orksammler
Zielobjekt zu erzeugen, losgelöst von äußeren Umständen – sogar wenn der Betreffende gerade auf einer Streckbank lag oder in einem brennenden Haus verschmorte. Wie die meisten psychoaktiven Praktiken war auch der innere Friede mit Vorsicht anzuwenden. Man hatte davon gehört, dass er bei zu hoher Dosierung unbeabsichtigt zum Tode führen konnte; der Beeinflusste legte sich dann in restloser Zufriedenheit nieder, um nie wieder aufzustehen und mit einem erfüllten Lächeln im Gesicht zu verhungern. Nicht zuletzt deswegen hatte Hippolit den Spruch nur schwach dosiert. Zudem war es ihm wichtig, dass Eftar ansprechbar blieb.
Er erhob sich, nahm den benebelten Mann bei der Hand und kehrte noch einmal in den Raum mit den Karteikasten zurück. Dort suchte er Einträge über mehrere Dokumente heraus, von denen er hoffte, aus ihnen mehr über die erwähnte Ungezieferplage herauszufinden. Dann wandte er sich an den Archivar.
»Eftar, mein Lieber! Alles ist gut, nicht war?«
»Nichts fehlt. Alles ist wunderbar, wie es ist«, lallte der Beamte.
»Hervorragend. Wenn es Ihnen so gut geht, macht es Ihnen sicher nichts aus, mir diese Aufzeichnungen aus dem Magazin herauszusuchen, nicht wahr?«
Ohne hinzusehen, streckte der Archivar die Hand nach den Karteikarten aus. »Ich bin komplett und gut«, erklärte er lächelnd. »Ich glaube, ich bin der glücklichste Archivar von ganz Lorgonia.«
»Quintessenziell«, bestätigte Hippolit. »Ihre Tätigkeit hier macht sie glücklich. Alte Dokumente herauszusuchen ist Ihre Erfüllung.«
Eftar blinzelte, nahm die Papiere in seiner Hand erst jetzt richtig wahr. »Das stimmt! Freude erfüllt mich beim Gedanken, meiner Aufgabe nachzukommen. Alles ist wunderbar.«
»Fein, fein. Dann hurtig!« Hippolit machte eine wedelnde Handbewegung, und der Archivar entfernte sich in Richtung der Magazinräume.
22
Jorges Stiefel hinterließen in der dünnen Ascheschicht der nächtlichen Straßen große, regelmäßige Abdrücke. Ein später Passant hätte sich vermutlich gefragt, wer derart riesige Fußabdrücke verursachen mochte, denn in Torrlem gab es keine Trolle. Aber außer ihm war niemand unterwegs, und schon bald verwischte der Abendwind die Spuren, bis nichts mehr von ihnen übrig war.
»Na, Pompom. Geht’s dir auch gut?« Jorge tätschelte die Vulvatte, die mittlerweile wieder keck aus der Brusttasche seiner Kluft lugte und ihr faltiges Cesichtchen in die Höhe reckte. Der schmutzige Schein der Ewigen Flamme hoch droben am Himmel spiegelte sich in ihren Knopfaugen, so dass es aussah, als wären sie von einem inneren Feuer erfüllt. »Mach dir nichts draus, dass M.H. dich nicht leiden kann«, fuhr Jorge fort, als er den herzerweichenden Blick des Tiers sah. »Er ist manchmal ein bisschen empfindlich, findest du nicht auch? Der stellt sich vielleicht an! Nur weil du ihn auf deine ganz eigene Art begrüßen wolltest, macht er so ein Theater.«
Die Vulvatte quiekte. Jorge lauschte, dann nickte er heftig. »Du hast ganz recht, Pompom, altes Lappenluder: Von Zeit zu Zeit benimmt sich M.H. wie ein kleines Kind. Aber das liegt daran, dass er in einem Knabenkörper gefangen ist.« Er zögerte, dachte kurz nach. »Ich hätte mal eine verdammt ehrlich gemeinte Frage an dich, Pompom. Du kennst mich jetzt ja schon recht gut, und du weißt, ich mag beantwortete Fragen. Also: Kann es sein, dass sich M.H. deswegen zuweilen so eigentümlich verhält, weil er … wie soll ich mich ausdrücken? Weil er allmählich in die Pubertät kommt? Ich meine, ich weiß: Sein Geist ist uralt, aber vielleicht fordert sein unreifer Körper jetzt seinen Tribut. Was meinst du, Pompom? Ist das eine gute Theorie?«
Pompom stieß eine Art Gurren aus, was Jorge entzückte. Vorsichtig tätschelte er ihren Kopf.
»Naja, wenigstens hat er das mit unserer Unterkunft geregelt. Es gibt da ein altes Trollsprichwort, und das geht so: Such dir stets eine Unterkunft für die Nacht, wenn du nicht eines überraschenden und schmerzhaften Todes sterben möchtest. Du magst es ja gewohnt sein, die Nächte draußen auf den Aschehalden zu verbringen, Pompom. Aber mal im Vertrauen: Ich bin kein Angsthase, doch in der Stadt des Todes zu nächtigen, umgeben von den Überresten so vieler Verstorbener … das lässt selbst im stärksten Troll den Wunsch nach einem weichen Daunenbett aufkommen, weißt du?«
Die eng stehenden grauen Häuser warfen gespenstische Schatten über das unebene Kopfsteinpflaster. Jorge fragte sich, woran er
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