Der Pakt der Liebenden
Irgendetwas verließ sie im Augenblick des Todes, veränderte dadurch die sterblichen Überreste, und genau das war bei den Toten zu erkennen.
Und dennoch, und dennoch …
Er dachte an die Frau. Sie war bei ihrem Tod nicht so schlimm verstümmelt worden wie der Mann. Die Räder des Lastwagens hatten ihn so zugerichtet, dass man ihn nicht mehr identifizieren konnte, aber sie war körperlich unversehrt gewesen, wenn man von den Löchern absah, die Jimmys Kugeln hinterlassen hatten, und die hatten sie am Oberkörper getroffen. Als er ihr Gesicht gesehen hatte, nachdem man sie aus dem Wasser gezogen hatte, war Parker erstaunt darüber, wie sehr sie sich verändert hatte. Es war kaum zu glauben, dass es sich um die gleiche Frau handelte. Die Grausamkeit in ihren Zügen war verschwunden, aber es war mehr als das, sie wirkte sanfter, so als ob die Knochen verrundet und die scharfen Kanten an ihren Wangen, der Nase und dem Kinn entfernt worden wären. Die unvollkommene Maske, die ihr Gesicht so lange bedeckt hatte, die zwar auf ihrem Äußeren beruhte und doch etwas anders war, gab es nicht mehr, als habe sie sich im kalten Wasser aufgelöst. Er hatte Jimmy angeschaut und bei ihm die gleiche Reaktion gesehen. Im Gegensatz zu ihm hatte Jimmy es sogar laut ausgesprochen.
»Die sieht nicht mal mehr wie sie aus«, hatte er gesagt. »Ich sehe die Wunden, aber das ist sie nicht …«
Die Jungs von der Spurensicherung hatten ihn verdutzt angeschaut, aber nichts gesagt. Sie wussten, dass Cops unterschiedlich reagierten, wenn sie in eine Schießerei mit tödlichem Ausgang verwickelt wurden.
Oh ja, irgendetwas hatte sie verlassen, als sie starb, aber Will glaubte nicht, beziehungsweise wollte nicht glauben, dass es wieder zurückgekommen war.
Während also Jimmy Gallaghers Neffe seinen Sohn bewachte, fuhr er in Pearl River herum, hielt an Kreuzungen an und spähte in die Nebenstraßen, richtete seine Taschenlampe auf dunkle Autos, die auf Parkplätzen standen, bremste ab und starrte junge Pärchen an, bis sie ihn anblickten, denn er war davon überzeugt, dass er diejenigen, die hinter seinem Sohn her waren, erkennen würde, wenn er ihnen in die Augen schaute.
Vielleicht war es ihm seit jeher bestimmt gewesen, sie zu finden. In den folgenden Stunden fragte er sich, ob sie auf ihn gewartet hatten, weil sie wussten, dass er kommen würde, aber davon überzeugt waren, dass er nicht dazu fähig wäre, etwas gegen sie zu unternehmen. Für ihn waren sie Fremde, und selbst wenn ihn der Rabbi auf ihr wahres Wesen hingewiesen haben sollte, wer glaubte denn schon so etwas?
Und irgendwann würde auch etwas hinter Epstein her sein. Es war nicht ihre Aufgabe. Das würde anderen überlassen werden. Der Rabbi konnte warten …
Und deshalb hatten sie sich nicht bewegt, als sie der Strahl seiner Taschenlampe auf einem Stück Brachland unweit seines Hauses erfasste. Sie hatten gesehen, wie der andere Mann, der Große mit den roten Haaren, zum Haus gekommen war, und sie hatten die Pistole in seiner Hand bemerkt. Jetzt, da sie wussten, wo der Junge war, und auch die Wahrheit über seine Herkunft in Erfahrung gebracht hatten, wollten sie unbedingt gegen ihn vorgehen, die Aufgabe zu Ende bringen, mit der sie vor so langer Zeit betraut worden waren. Aber wenn sie es überstürzten und einen Fehler begingen, dann wäre er für sie wieder verloren. Der rothaarige Mann war bewaffnet, und sie wollten nicht sterben, keiner von ihnen. Sie waren bereits so lange getrennt gewesen, und sie liebten einander. Diesmal war das Mühen um die Wiedervereinigung kürzer gewesen, aber die Trennung war trotzdem schmerzlich für sie gewesen. Der Junge war von einem anderen aufgespürt worden, einem gewissen Kittim, der ihm schändliche Sachen eingeflüstert hatte, und der Junge hatte gewusst, dass sie stimmten. Er war gen Norden gefahren, und nach einiger Zeit hatte er mit Kittims Hilfe das Mädchen gefunden. Jetzt waren sie füreinander entflammt und ergötzten sich an ihren Körpern. Sobald der Junge tot war, konnten sie verschwinden und für immer beisammen sein. Sie mussten nur vorsichtig sein. Sie wollten kein Risiko eingehen.
Und hier nahte der Vater des Jungen – sie erkannten ihn sofort. Merkwürdig, dachte das Mädchen. Beim letzten Mal hatte sie ihn im Augenblick ihres Todes gesehen. Jetzt war er hier, älter und grauer, müde und schwach. Sie lächelte unwillkürlich, beugte sich zu dem Jungen und ergriff seine Hand. Er drehte sich zu ihr um, und sie
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