Der Pakt der Liebenden
schon bei meinem letzten Besuch da gewesen und hatte ebenfalls gefegt. Vermutlich war er immer da, putzte, wienerte und passte auf. Er schaute mich an und nickte, als er mich erkannte.
»Der Rabbi ist nicht da«, sagte er, als sei es für ihn selbstverständlich, dass es keinen anderen Grund für meine Anwesenheit geben konnte.
»Ich habe ihn angerufen«, sagte ich. »Er erwartet mich. Er ist hier.«
»Der Rabbi ist nicht da«, wiederholte er mit einem Achselzucken.
Ich setzte mich hin. Meiner Meinung nach hatte es keinen Sinn, das Gespräch fortzusetzen. Der Alte seufzte und fegte weiter.
Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde. Epstein war nirgendwo zu sehen. Als ich schließlich aufstand und gehen wollte, saß der Alte an der Tür und hielt den Besen aufrecht zwischen den Knien, wie ein Banner, das von einem alten, in Vergessenheit geratenen Faktotum emporgereckt wird.
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt«, sagte er.
»Yeah, das haben Sie.«
»Sie sollten besser zuhören.«
»Das kriege ich oft zu hören.«
Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Der Rabbi«, sagte er, »der kommt jetzt nicht mehr so oft hierher.«
»Warum?«
»Er hat sich unbeliebt gemacht, glaube ich. Oder vielleicht ist es zu gefährlich für ihn, für uns alle. Es ist ein Jammer. Der Rabbi ist ein guter Mann, ein weiser Mann, aber einige sagen, er passt nicht hierher, in dieses Bet Shalom .«
Er musste meine verdutzte Miene bemerkt haben. »Ein Haus des Friedens«, erklärte er. »Kein Sheol . Nicht hier.«
» Sheol ?«
»Hölle«, sagte er. »Nicht hier. Nicht mehr.«
Und er tippte mit dem Fuß vielsagend auf den Boden, als wollte er auf die geheimen Orte darunter hinweisen. Als ich das letzte Mal im Orensanz Center gewesen war, hatte mir Epstein eine Zelle unter dem Keller des Gebäudes gezeigt. Darin hatte er ein Wesen eingeschlossen, das sich Kittim nannte, ein Dämon, der ein Mann sein wollte, beziehungsweise ein Mann, der sich für einen Dämon hielt. Wenn der Alte die Wahrheit sagte, dann war Kittim nicht mehr hier, sondern ebenso verbannt wie Epstein, sein Häscher.
»Danke«, sagte ich.
»Bevakashah« , erwiderte er. » Betakh ba-Adonai va’asei-tov .«
Ich verließ ihn und ging hinaus in die kalte Frühlingssonne. Allem Anschein nach war ich umsonst hergekommen. Entweder fühlte sich Epstein im Orensanz Center nicht mehr wohl oder man duldete ihn hier nicht mehr. Irgendetwas war vorgefallen – er kam nicht. Ich hielt Ausschau nach Louis, aber auch von ihm war nichts zu sehen. Trotzdem wusste ich, dass er in der Nähe war. Ich ging die Treppe hinunter und lief in Richtung Stanton Street. Nach knapp einer Minute spürte ich, wie jemand zu mir aufschloss. Ich schaute nach links und sah einen jungen Juden, der eine Kippa und eine weite Lederjacke trug. Er hatte die rechte Hand in der Jackentasche. Ich meinte die Umrisse einer kleinen Pistole zu sehen, die sich am Leder abdrückte. Hinter mir lief ein weiterer junger Mann. Die beiden wirkten kräftig und schnell.
»Sie haben sich da drin viel Zeit gelassen«, sagte der Mann zu meiner Linken. Er hatte einen ganz leichten Akzent. »Wer kann denn wissen, dass Sie so viel Geduld haben?«
»Ich habe daran gearbeitet«, sagte ich.
»Das war auch nötig, habe ich gehört.«
»Tja, ich arbeite immer noch daran, deshalb sollten Sie mir vielleicht lieber verraten, wohin wir gehen.«
»Wir dachten, Sie möchten vielleicht etwas essen.«
Er lotste mich in die Stanton Street. Zwischen einem Feinkostladen, der allem Anschein nach seit letztem Sommer keine frische Ware mehr eingekauft hatte, jedenfalls den zahllosen toten Insekten nach zu schließen, die zwischen den Flaschen und Gläsern im Schaufenster lagen, und einem Schneider, der offenbar Seide und Baumwolle für vergängliche Modeerscheinungen hielt, die letztlich den Kunstfasern weichen mussten, befand sich ein koscherer Diner. Er war schummrig beleuchtet und verfügte über vier Tische, deren Holz eingedunkelt und über die Jahrzehnte hinweg von heißen Kaffeetassen und brennenden Zigaretten gezeichnet worden war. Ein an der Glastür hängendes Schild teilte auf Hebräisch und Englisch mit, dass er geschlossen war.
Nur ein Tisch war besetzt. Epstein saß auf einem Stuhl mit Blick zur Tür und hatte den Rücken der Wand zugekehrt. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd und einem schwarzen Schlips. Ein dunkler Mantel hing an einem Haken hinter seinem Kopf, darüber ein schwarzer Hut mit schmaler Krempe, so
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