Der Pakt der Liebenden
beim letzten Mal hat er danach gegriffen. Die Hand ist verschwunden, und Will hat geschossen. Das Mädchen hat geschrien und an der Leiche rumgezerrt. Will hat sie gewarnt, bevor er sie ebenfalls erschossen hat. Er hat gesagt, irgendwas in ihm ist ausgerastet, als der Junge ihn vorgeführt hat. Vielleicht war’s so. Das waren andere Zeiten, brutale Zeiten. Man durfte kein Risiko eingehen. Wir kannten alle Jungs, die sich auf der Straße eine eingefangen hatten.
Als ich Will das nächste Mal sah, lag er unter einem Laken und hatte ein Loch im Hinterkopf, das vor der Beerdigung gestopft werden musste. Wolltest du das wissen, Charlie? Willst du hören, wie ich seinetwegen geweint habe, wie mir zumute war, weil ich nicht für ihn da war, wie mir in all den Jahren zumute war? Willst du darauf hinaus: Jemand die Schuld für das geben, was an dem Abend passiert ist?«
Er hatte die Stimme erhoben. Ich sah ihm die Wut an, aber ich verstand den Grund nicht. Es kam mir aufgesetzt vor. Nein, das stimmte nicht. Seine Trauer und die Wut waren echt, aber er benutzte sie als Vorwand, als Mittel, um irgendetwas vor mir zu verbergen, und vor sich auch.
»Nein, darauf will ich nicht hinaus, Jimmy.«
Was er danach sagte, hatte etwas Lustloses, etwas Verzweifeltes an sich.
»Was willst dann ?«
»Ich möchte wissen, warum.«
»Da gibt’s kein ›Warum‹. Kriegst du das nicht in deinen Kopf? Seit fünfundzwanzig Jahren haben Leute nach dem ›Warum‹ gefragt. Ich habe es mich gefragt, und es gibt keine Antwort. Was immer der Grund dafür war, er ist gestorben, als dein Vater gestorben ist.«
»Das glaube ich nicht.«
»Lass es sein, Charlie. Es kommt nichts Gutes dabei raus. Lass sie in Frieden ruhen, alle beide, deinen Vater und deine Mutter. Es ist alles vorbei.«
»Siehst du, genau das ist das Problem. Ich kann sie nicht ruhen lassen.«
»Warum nicht?«
»Weil einer oder beide nicht blutsverwandt mit mir waren.«
Es war, als hätte jemand eine Nadel genommen und Jimmy Gallagher von hinten gestochen. Er bog den Rücken durch, und ein Teil seiner Massigkeit schien zu verschwinden. Er ließ sich wieder zurücksinken.
»Was?«, flüsterte er. »Was ist das denn für ein Gerede?«
»Es geht um die Blutgruppen, sie passen nicht. Ich habe Blutgruppe B. Mein Vater hatte Blutgruppe A, meine Mutter Blutgruppe 0. Eltern mit diesen Blutgruppen können nie und nimmer ein Kind mit Blutgruppe B zeugen.«
»Aber wer hat dir das gesagt?«
»Ich habe mit unserem Hausarzt gesprochen. Er ist jetzt im Ruhestand, aber er hat unsere Unterlagen aufbewahrt. Er hat nachgeschlagen und mir Kopien von zwei Blutuntersuchungen von meinem Vater und meiner Mutter geschickt. Es könnte sein, dass ich der Sohn meines Vaters bin, aber nicht der meiner Mutter.«
»Das ist doch Irrsinn«, sagte Jimmy.
»Du hast meinem Vater nähergestanden als irgendeiner seiner anderen Freunde. Wenn er irgendjemand was davon erzählt hat, dann dir.«
»Was hätte er mir denn erzählen sollen? Dass du ein Kuckuckskind bist? Du irrst dich. Du musst dich irren.«
Er nahm die Kaffeetassen und kippte den Inhalt in die Spüle, dann ließ er sie dort stehen. Er hatte mir den Rücken zugekehrt, aber ich konnte sehen, dass seine Hände zitterten.
»Ich irre mich nicht«, sagte ich. »Es stimmt.«
Jimmy fuhr herum und kam auf mich zu. Ich war davon überzeugt, dass er auf mich losgehen wollte. Ich stand auf und trat den Stuhl weg, wappnete mich für den Schlag und war bereit, ihn abzublocken, falls ich ihn rechtzeitig sah, doch er kam nicht. Stattdessen ergriff Jimmy ruhig und bedächtig das Wort.
»Wenn es stimmt, dann wollten sie nicht, dass du es erfährst, und es hilft dir auch nicht weiter. Sie haben dich geliebt, alle beide. Was immer es auch ist, was immer du meinst, entdeckt zu haben, lass es in Ruhe. Es wird dir nur wehtun, wenn du weiter nachforschst.«
»Du scheinst dir dessen ja ziemlich sicher zu sein, Jimmy.«
Er schluckte hart.
»Du kannst mich mal, Charlie. Du musst jetzt gehen. Ich habe zu tun.«
Er winkte mir zum Abschied zu und kehrte mir wieder den Rücken zu.
»Wir sehen uns, Jimmy«, sagte ich und wusste, dass er meinen warnenden Unterton wahrgenommen hatte, aber er sagte nichts. Ich ging allein hinaus und lief zur U-Bahn zurück.
Später sollte ich erfahren, dass Jimmy Gallagher nur so lange gewartet hatte, bis er sicher war, dass ich nicht zurückkam, bevor er den Anruf machte. Es war eine Nummer, die er seit vielen Jahren nicht gewählt
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