Der Pakt der Liebenden
ihr erklärt, dass er anders sei, auch wenn er sich fragte, ob er sich in die versponnenen Fantasien einer jungen Frau hineinziehen ließ. Aber dann dachte er an den Mann mit der Waffe und die bleiche Frau mit den toten Augen, und er wusste, dass zumindest ein Kern Wahrheit in all dem steckte, was Caroline Carr ihm erzählt hatte.
Er hatte inoffizielle Erkundigungen über das Tattoo am Arm des toten Peter Ackerman angestellt und wurde schließlich an einen jungen Rabbi namens Epstein verwiesen, der in Brooklyn Heights wohnte. Bei einem Glas süßen, koscheren Weins hatte der Rabbi mit ihm über Engel geredet und über obskure Bücher, die, soweit Will wusste, nicht in die Bibel aufgenommen worden waren, weil sie noch absonderlicher waren als das Zeug, das drin stand, und das wollte was heißen. Während sie miteinander sprachen, wurde Will allmählich bewusst, dass der Rabbi ihn ebenso aushorchte wie er den Rabbi.
»Dann ist es also eine Sekte, eine Art Kult, auf den sich Peter Ackerman eingelassen hat?«, sagte Will.
»Möglicherweise«, sagte der Rabbi. Dann: »Warum interessiert Sie der Mann so?«
»Ich bin Polizist. Ich war dabei, als er umkam.«
»Nein, dahinter steckt mehr.« Der Rabbi lehnte sich zurück und zupfte an seinem kurzen Bart. Er schaute Will unverwandt an. Zu guter Letzt schien er einen Entschluss zu fassen. »Darf ich Sie Will nennen?«
Will nickte.
»Ich werde Ihnen jetzt etwas erzählen, Will. Wenn meine Vermutung richtig ist, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es bestätigen würden.«
Will hatte das Gefühl, dass ihm nichts weiter übrigblieb, als mitzuspielen. Später erklärte er Jimmy, dass er sich irgendwie auf einen Austausch von Erkenntnissen eingelassen habe.
»Dieser Mann war nicht allein«, sagte Epstein. »Eine Frau war bei ihm. Sie war vermutlich etwa so alt wie er. Ist das richtig?«
»Woher haben Sie das gewusst?«
Epstein holte eine Kopie des Zeichens heraus, das man an Peter Ackermans Leiche gefunden hatte.
»Deswegen. Sie gehen immer paarweise auf die Jagd. Schließlich sind sie ein Liebespaar. Der Mann –«, er deutete auf Ackermanns Zeichen und legte dann ein weiteres Blatt Papier daneben, »– und die Frau.«
Will musterte alle beide.
»Dann gehört die Frau also der gleichen Sekte an?«
»Nein, Will. Wir glauben nicht, dass es sich um eine Sekte handelt. Das ist etwas viel Schlimmeres …«
Jimmy drückte sich die Fingerspitzen an den Kopf. Er dachte scharf nach. Ich ließ ihn in Ruhe. Epstein – ich hatte mich schon mehrmals mit dem Rabbi getroffen und ihm unter anderem dabei geholfen, die Mörder seines Sohnes aufzuspüren, aber er hatte mir nie erzählt, dass er meinen Vater gekannt hatte.
»Ihre Namen«, sagte Jimmy. »Ich kann mich nicht mehr an ihre Namen erinnern.«
»Was für Namen?«
»Die Namen, die der Rabbi Will genannt hat. Der Mann und die Frau, die hatten jeweils Namen. Wie schon gesagt, war es beim Mann irgendwas mit ›An –‹, aber ich weiß nicht mehr, wie die Frau hieß. Es ist, als ob man sie mir aus dem Gedächtnis getilgt hat.«
Er wurde zusehends ungehaltener und zerstreuter.
»Das spielt im Moment keine Rolle«, sagte ich. »Wir können später darauf zurückkommen.«
»Sie hatten alle Namen«, sagte Jimmy. Er klang verwirrt.
»Was?«
»Das hat der Rabbi Will erzählt. Er hat gesagt, dass sie alle Namen hätten.« Er warf mir einen Blick zu, der fast schon verzweifelt wirkte. »Was soll das heißen?«
Und mir fiel ein, dass mein Großvater die gleichen Worte gebraucht hatte, als die Alzheimer-Krankheit sein Gedächtnis auslöschte wie eine Kerzenflamme, die man mit den Fingern ausdrückt. »Sie alle haben Namen, Charlie«, hatte er gesagt, und sein Gesicht hatte geglüht, als wäre es furchtbar wichtig. »Sie alle haben Namen .« Ich wusste nicht, was er meinte, damals noch nicht. Erst später, als ich es mit Kreaturen wie Kittim und Brightwell zu tun bekam, erfuhr ich es allmählich.
»Das heißt, dass man selbst die schlimmsten Dinge beim Namen nennen kann«, erklärte ich Jimmy. »Und dass es wichtig ist, diese Namen zu kennen.«
Denn wenn man etwas beim Namen nennen kann, versteht man es.
Und wenn man es versteht, kann man es möglicherweise vernichten.
Durch die Pflicht, Caroline Carr zu beschützen, gerieten die beiden unter zusätzlichen Druck, und das zu einer Zeit, da die Stadt in Aufruhr war und die Anforderungen an die Polizei immer größer wurden. Im Januar 1966 waren die Mitarbeiter der
Weitere Kostenlose Bücher