Der Pakt der Wächter: Roman

leeren Steinsockel daneben.
    Der Sockel der Mumie? Wo ist der Sarg?
    Ich hinke in den Seitenflügel. Dort stehen zwei kleinere Steinsärge, jeder auf einem eigenen Sockel.
    In den einen Sargdeckel ist in Runen der Name Bárđr – das altnordische Wort für Bård – eingemeißelt worden. Der andere Sarg trägt den Namen Asim .
    Asim …
    Überwältigt taumele ich einen kleinen Schritt zurück.
    Asim – der Ägypter... Der Hohepriester des Amon-Ra-Kultes. Dann ist also wirklich alles wahr. Snorris Andeutungen, Stuarts Theorien, unsere eigenen wilden Mutmaßungen. All das, was wir geahnt, aber nicht wirklich gewusst haben.
    Alles ist wahr.
     
    Später schieben wir die steinernen Deckel der Särge zur Seite. In beiden Särgen liegen in zerfallene Bandagen gehüllte Skelette. Jemand scheint versucht zu haben, die beiden Leichen zu balsamieren und zu mumifizieren.
    An der Wand des Seitenflügels stehen weitere Krüge, bis zum Rand mit Goldschmuck, Edelsteinen und Geschmeiden gefüllt.

3
     
    Die Scheinwerfer tauchen die Grabkammer in weißes, grelles Licht.
    Erst jetzt entdecke ich, dass Decke und Wände dekoriert sind. Hinter der Staubschicht erkenne ich Inschriften. Hieroglyphen, Runen und Buchstaben. Ich sehe verblichene Wandmalereien von ägyptischen, christlichen und nordischen Göttern, Figuren und Symbole – eine wilde Mischung aus Mythologie, Astrologie und Religion. Von einem Kreuz, das wie ein Anch geformt ist, blickt Jesus zu einem allmächtigen Odin. Die Midgardschlange windet sich um die Erdkugel, in deren Mitte ein Pergament versteckt ist. Amon-Ra thront am Eingang der Unterwelt, in der Satan regiert. Der Weltenbaum Yggdrasil wirft lange Schatten auf die Cheopspyramide. Moses spaltet ein wütendes Meer mithilfe des Schwertes Mimung. Die fantasievollen Dekorateure haben den Asenglauben mit dem Christentum, dem Judentum, der ägyptischen Mythologie und simpler Astrologie gemischt.
    Ein paar Textbrocken sind lesbar. Sie erzählen von einem ewig schlafenden Gott, dem heiligen Moses und Olav, von der Sprache der Sterne und von einer Reise ans Ende der Welt.

4
     
    Eine gute Woche lang arbeite ich von morgens früh bis abends spät in der Grabkammer.
    Wir fotografieren, filmen und kopieren die Wanddekorationen. Wir vermessen die Höhle. Wir zeichnen sie aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Wir registrieren und markieren jedes Artefakt, jeden Krug und jeden Stein.
    Glücklich widme ich mich mit ganzer Seele meiner Arbeit als Archäologe und versuche dabei zu vergessen, dass es Männer wie Hassan oder Scheich Ibrahim al-Jamil ibn Zakiyy ibn Abdulaziz al-Filastini gibt. Die Insel und die Höhle werden rund um die Uhr von der Polizei und einer privaten Sicherheitsgesellschaft bewacht.
    Forscher, Pressevertreter und Fernsehteams aus der ganzen Welt kommen, um die Höhle zu besuchen. Wir lassen sie jeden Nachmittag in kleinen Gruppen herein. Da ich dazu neige, verregnete Sonntage in Gesellschaft des National Geographic Channels zu verbringen, bin ich gegenüber dem amerikanischen Sender besonders wohlwollend. Sie wollen einen einstündigen Dokumentarfilm drehen. CNN bringt eine Life-Übertragung vom Höhleneingang. Der italienische Sender RAI plant ein Programm, das den Arbeitstitel Das Grab in der Höhle trägt. Und für morgen hat sich ein Team des arabischen Senders Al-Jazeera angemeldet.
     
    Spät am Abend ruft mich Ragnhild an. Sie hat aus Island erfahren, dass dort einer von Hassans Männern bei einem weiteren Einbruch in Thrainns Wohnung verhaftet worden ist. Der Verbrecher hatte über eine saudiarabische Immobiliengesellschaft mit Sitz in Paris ein Haus am Raudavatn in Reykjavik gemietet. Drei Anwälte aus London sind sofort herbeigeeilt, um Islands berühmtesten Anwalt bei der Verteidigung zu unterstützen.
    Ich versuche, Thrainn anzurufen, aber er geht nicht ans Telefon.

5
     
    Im Helikopter transportieren wir den Olav-Schrein von Selja nach Bergen. Der Lieferwagen wird von einer Polizeieskorte vom Flughafen Flesland zur Werkstatt der Universität Bergen begleitet.
    Wir benötigen zwei Tage für die Demontage des Schreins.
    Unter der äußeren Sargschicht legen wir den juwelenbesetzten Silbersarg frei, den Olavs Sohn, Magnus Olavsson, für seinen Vater gebaut hat. Auch den Verschluss und die Seiten zieren goldene Ornamente. Einzelne Felder bestehen aus reliefartig hervorgehobenen, religiösen Motiven. Die Seitenwände und das Schloss sind mit Juwelen und geschliffenen Bergkristallen